Ludwig Seeger
Ueber Turnen und Heilgymnastik mit besonderer
Beziehung auf das weibliche Geschlecht.
Die Natur in ihren schönen Formen spricht
figürlich zu uns, und die Auslegungsgabe ihrer Chiffernschrift ist uns im
moralischen Gefühl verliehen.
Kant
"Eine gesunde Seele in einem gesunden
Leibe!" Wüßten wir uns alle im Besitz dieses hohen, schönsten Guts, wie
glücklich wären wir, welch lieblicher Spielplatz für große und kleine Kinder
wäre diese Welt, wie hellenisch wäre sie! "Eine gesunde Seele in
einem gesunden Leibe!" Dieß ist im Grunde das letzte Ziel aller
Erziehungskunst, aller Heilkunst. Man hört, zumal in diesen Tagen, wo die
linden Lüfte wehen und in die Bäder, in die Berge, zu Kaltwasser= und
Luftkuren hinauslocken, so viel von Naturheilanstalten, von Heilgymnastik und
andern heilsamen Erfindungen der Neuzeit reden. Die Aufmerksamkeit, welche die
Heilgymnastik sowohl als das Turnen überhaupt, insbesondere das Turnen der
Mädchen, in neuerer Zeit in erhöhtem Maße für sich in Anspruch nimmt, mag
den Versuch nicht ungerechtfertigt erscheinen lassen, an der Hand der
Mittheilungen eines Fachmanns, die uns zur Verfügung gestellt worden, und der
Anschauung, die wir uns selbst verschafft halben, die Sache einer kurzen
Besprechung auch an dieser Stelle zu unterziehen.
Moriz Cloß in seiner "Weiblichen
Heilgymnastik,"* im Kapitel:
"die Gesundheit des weiblichen Geschlechts unter den Einflüssen von
Erziehung und Sitte," unter anderm: "Das der Modeherrschaft
unterworfene Weib lernt nur zu sehr und zu bald die Stimme der Natur in Bezug
auf das physische Bedürfniß der täglichen Körperbewegung überhören, und
seine vollkräftige Gesundheit ist daher fast ein Ideal, welches sich doch bei
den reichen und bildsamen Naturanlagen der Frauen so leicht verwirklichen
ließe. Die Pädagogik und die Diätetik kommen in der gemeinschaftlichen
Aufgabe für Verwirklichung dieses Ideals zusammen, indem sie nicht bloß dazu
beitragen sollen, das Menschengeschlecht von verjährten Vorurtheilen zu
befreien, sondern auch die Mittel anwenden zu lehren, die zur Verbesserung und
Erhaltung der Einzelnen, wie der Gesammtheit dienen. Wenn gegenwärtig fast
aller Orten Institute für Heilgymnastik und Orthopädie eröffnet werden und
vollauf beschäftigt sind, um die Verkrüppelungen und Verkrümmungen des
weiblichen Körpers mühsam und künstlich durch gymnastische Uebungen zur
natürlichen Wohlgestalt zurückzubilden, so sind das sichere Zeichen von den
Mängeln unserer weiblichen Erziehung, und es liegt dann der Gedanke sehr nahe,
eben durch die Gymnastik eine naturgemäße Entwicklung des erschlafften
weiblichen Körpers zu unterstützen und dadurch ein in allen Organen und
Kräften durchgebildetes weibliches Leben als die reinste Quelle der weiblichen
Gesundheit herzustellen."
Was versteht man nun eigentlich unter
Heilgymnastik? - Heilgymnastik (auch medicinische Gymnastik, Kinnsitherapie
genannt) ist Heilung von Krankheiten durch Körperwegungen, durch
Muskelthätigkeit überhaupt. Es ist historisch nachgewiesen, daß die Methode,
durch verschiedene Körpermanipulationnen Krankheiten zu heilen, schon im hohen
Alterthum da und dort geübt wurde. So wissen wir von Plinius, daß die Betten
der Kranken in die freie Luft gehängt und durch eine wiegende Bewegung ihre
Schmerzen gelindert wurden, und Strabo erzählt von den Indianern, daß
dieselben so sehr für die Reibungen des Körpers mit leichten elfenbeinernen
Striegeln eingenommen seyen, daß selbst die Könige, während ihnen die Klagen
des Volkes vorgetragen wurden, sich mit diesen Werkzeugen behandeln. Das
Bürsten, Striegeln und Kneten der Muskeln nach dem Bade ist heute noch bei
allen Orientalen Sitte.
Diese Methode, Krankheiten durch Erregen der
Muskelthätigkeit, durch Manipulationen am Körper des Leidenden zu behandeln,
war längere Zeit im Mittelalter in Vergessenheit gerathen. Erst im sechzehnten,
siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert wurde sie wieder von einigen Aerzten in
Anregung gebracht. Wir nennen nur den berühmten Sydenham. Doch war es erst im
letzten Jahrzehend dieses Jahrhunderts, wo es dem Schweden Ling gelang,
der Gymnastik eine neue, man könnte sagen wissenschaftliche Gestalt zu geben.
Ling ist im Jahr 1776 geboren; er studirte
Theologie, machte später als Freiwilliger mehrere Feldzüge mit, bereiste dann
Frankreich, England, Deutschland, in welch letztem Lande er namentlich für sein
System der Gymnastik vielfache Materialien sammelte. Im Jahr 1805 wurde er
Fechtmeister und hielt zugleich Vorlesungen über Geschichte und Dichtkunst.
Später wurde er Direktor des schwedischen Centralinstituts für Gymnastik und
starb im Jahr 1839.
Ling stellte einen Cyklus von Bewegungen auf,
durch welche die vollste Harmonie zwischen allen Theilen des Körpers
hergestellt werden sollte; er bildete sich eine Lehre von den Körperbewegungen
in Uebereinstimmung mit den Gesetzen, die den menschlichen Organismus
beherrschen. Ihm war es nicht so sehr darum zu thun, Kraft= und Schaustücke,
welche beim deutschen Turnen, wie es seit Vater Jahn getrieben wurde, nur zu
sehr sich in den Vordergrund gedrängt hatten, zu Tage zu fördern; sein Streben
ging vorzugsweise dahin, zu erforschen, welche physiologische Bedeutung die zu
erlernende Turnfertigkeit für das organische Leben des Körpers habe. Ling
betrachtete die organisch harmonische Ausbildung des menschlichen Leibes als
einen wesentlichen Bestandtheil der Jugenderziehung und der Volksbildung.
Das System, das Ling aufstellte, umfaßt
dreierlei verschiedene Arten von Bewegungen, die aktiven, die passiven
und die halbaktiven oder duplicirten, wovon die beiden ersteren
durch ihn theils eine Erweiterung, theils wesentliche Verbesserungen erhielten;
die letzteren aber, die duplicirten Bewegungen, sind es, welche vorzugsweise
durch ihn in Aufnahme kamen. Sie sind es gerade, welche dem schwedischen System
das eigenthümliche Gepräge verleihen, und wenn man im gewöhnlichen Leben von
Heilgymnastik spricht, so hat man ganz besonders diese neue Art von
gymnastischen Bewegungen im Auge.
Bei diesen Turnübungen treten zwei oder
mehrere Uebende in Wechselthätigkeit zu einander, und die Ausführung derselben
wird durch gegenseitige Kraftanstregung erschwert. Der Uebende oder Kranke
vollführt eine gewisse Bewegung und hat dabei einen je nach Umständen
größeren oder geringeren Widerstand, der von einem andern, dem Gehülfen oder
Gymnasten, seiner Mukelthätigkeit entgegengesetzt wird, zu überwinden. Oder
der Uebende macht den Widerstand, der dann von dem Gehülfen zu überwinden ist,
wobei es, wie sich von selbst versteht, nicht etwa auf ein wechselseitiges
Prüfen und Messen der Kräfte, sondern auf eine allmählig zunehmende
Steigerung der Gliederkraft ankommt. Bei diesen Bewegungen nimmt man an, daß
sie eine Ausdehnung der Muskeln und sehnigen Häute zur nächsten Folge haben,
wodurch ein größerer Zufluß von Pulsaderblut und eine größere Absonderung
von Plasma oder Bildungsstoff herbeigeführt werde. Es ist keine Frage, daß
diese Bewegungen, die in einem bestimmten präcisen Rhythmus, dem jedesmal eine
Pause folgt, und die mit Anfangs schwächerer, dann sich steigernder und zuletzt
wieder abnehmender Kraftanstrengung ausgeführt werden, der Eigenthümlichkeit
des Krankheitsfalles, dem Alter, der Constitution des Kranken leicht anzupassen
sind, und sich dadurch noch ganz besonders auszeichnen, daß eben die dabei im
Auge behaltene Richtung der Muskelthätigkeit eine mehr determinirte, eine auf
bestimmte Muskeln oder vielmehr Muskelgruppen gerichtete ist, durch welche die
individuelle Willensthätigkeit des Patienten in ausgezeichneter Weise in
Anspruch genommen wird.
Außer diesen duplicirten Bewegungen sind noch
die aktiven und die passiven zu besprechen. Bei den passiven verhält sich der
Patient ganz unthätig, während der Gymnast, der Arzt oder Gehülfe einzelne
Glieder mit Klopfungen, Beugungen, Rollungen, Erschütterungen, Hackungen u.s.w.
bearbeitet. Ein großer Theil derselben war schon seit langer Zeit sattsam
bekannt und bildete einen Theil der Volksmedicin, einige derselben wurden aber
erst von Ling für Kurzwecke benutzt. Durch sie wird theils eine rein
mechanische, die Lage und Form der Theile verbessernde Wirkung erzielt, theils
dienen sie zur Lösung stockender Säfte und zur Rückbildung von
Ausschwitzungen, oder wirken verschiedentlich anregend auf die Nervenbahnen.
Was die aktiven Bewegungen, die willkürlich
mit oder ohne Apparate und Geräthschaften ausgeführten Bewegungen, anbelangt,
so finden diese im System von Ling keine ausgedehnte Anwendung. Manche derselben
lassen sich allerdings für medicinische Zwecke mit großem Nutzen verwerthen;
einen ziemlichen Theil derselben aber trifft ganz entschieden der Vorwurf der
Langweiligkeit, und trotz ihrer angestrebten, auf Anatomie und Physiologie
gegründeten Wissenschaftlichkeit wird die schwedische Gymnastik als Erziehungs=
und Bildungsmittel nie mit unserem deutschen Turnen in die Schranken treten
können. Indessen gingen einzelne deutsche Vertreter der schwedischen Gymnastik
so weit in ihrer Begeisterung für dieselbe, daß sie die Unterdrückung unseres
deutschen Turnens als eine sittliche Nothwendigkeit angesehen wissen wollten.
Es ist nicht zu leugnen, daß die deutsche
Turnkunst eine Zeit lang im besten Zuge war, durch Ueberschreitung ihrer Grenzen
und des natürlichen Maßes einer angemessenen Körperübung in eine Schule für
Akrobaten und Athleten auszuarten, und es war deßhalb ein gewiß nicht gering
zu schätzendes Verdienst der schwedischen Schule, die Aufmerksamkeit auf eine
genaue Berücksichtigung des menschlichen Organismus selbst und seines
Verhaltens zu der ihm auferlegten Thätigkeit, auf die physiologischen Wirkungen
der Turnübungen hinzuweisen.
Aber wenn auch diese wissenschaftliche Seite
beim deutschen Turnen bisher übersehen wurde, so ist doch wohl zu bedenken,
daß es Aufgabe der praktischen Turnkunst ist, die körperlichen Anlagen zur
Fertigkeit in den natürlichen Verrichtungen auszubilden, welche das Leben
fordert. Jede Uebertreibung in der Folgerichtigkeit der Bewegung und jedes
kurzsichtige Haften an einzelnen praktischen Zwecken wird die Lust am Turnen
tödten und den Erfolg lähmen. Das Turnen ist eben aus dem natürlichen Drange
nach freier Bewegung entstanden, welche in der Natur des Organismus und in den
natürlichen Verrichtungen Maß und Richtung, aber keine absolute Schranke
findet. Es ist deßhalb eine Einseitigkeit und ein wissenschaftlicher
Rigorismus, wenn diese fröhliche Kunst zu einer abstrakten Muskellogik erhoben
wird. Die vorwiegend wissenschaftliche Auffassung des Turnens nach dem
Ling'schen System wird demselben ohne Zweifel seine Bedeutung als medicinische
Heilanstalt sichern, nicht aber in gleichem Maße fruchtbringend für die
Erziehung und die Schulen werden, denen wir eine frische und fröhliche,
allerdings aber auch wohlgeordnete und nutzenbringende Turnkunst wünschen
müssen. Es ist wahrlich dringende Pflicht, den Eifer für die Turnkunst immer
wieder wach zu rufen in einer Zeit der Erschlaffung und Entnervung, einer wahren
Körper= und Geistesabgeschlagenheit.
Otto Heinrich Jäger weist in seinem
Buche: "über die Gymnastik der Hellenen in ihrem Einfluß auf's gesammte
Alterthum und ihre Bedeutung für die deutsche Gegenwart," mit klaren
Zügen nach, daß sie es hauptsächlich war, welche das "gottgeliebte
glückliche Volk der Schönheit und Kunst" zu seiner eminenten Höhe
emporschwang. Die tiefe, weit greifende Bedeutung der hellenischen Gymnastik
liegt in der vollen freien Anerkennung des menschlichen Körpers als eines
schlechthin berechtigten Organismus und in der Uebernahme seiner instinktartigen
Entwicklung in die leitende, veredelnde Hand des kunstsinnigen, freien,
bewußten Geistes, hervorgequollen und liebend getragen von der innigsten
Versöhnung der menschlichen Freiheit mit den weisen Absichten und Gesetzen der
Natur und beseelt von reinem, sittlichem Selbstvertrauen. Lucian läßt Solon
zum Scythen Anarcharsis die Worte sprechen: "Es ist uns Hellenen nicht
genug, jeden so zu lassen, wie ihn die Natur geschaffen; sondern wir bedürfen
für jeden der gymnastischen Bildung, damit das von Natur schon glücklich
Geschaffene noch um vieles besser, die schlechte Anlage aber veredelt
werde".
Die Gymnastik erfaßt, weil sie nach dem
reinen Gesetze des menschlichen Organismus erfolgt, den Körper harmonisch in
strenger natur= und begriffsmäßiger Gliederung und hebt ihn ganz und stetig
empor zu seiner sinnlichen Vollendung und sittlichen Charakterprägung. Der
Hellene erreichte durch sie einen gewissen, für alle andern Zeiten unendlich
hohen Grad vollkommen edel schöner und sittlich freier Bildung und steht so vor
uns als ein Ideal; an jeder Linie erkennen wir die Herrschaft des freien,
kunstsinnigen, ächt menschlichen Geistes. Mit Einem Wort, die freie,
naturgemäße, umfassende Kunstschöpfung des sinnlichen Menschen durch den
bewußtvollen, mit den weisen Absichten der Natur versöhnten Geist ist die
Seele der hellenischen Gymnastik. Solon sagt weiter bei Lucian: "Gegenüber
den im Schatten verkommenen weißen Barbarenkörpern mit träger Wohlbeleibtheit
oder blasser Magerkeit, zitternd und weichlich zerfließend und schlotternd,
sind die hellenischen röthlich und von der Sonne in's Braune gefärbt; mannhaft
von Ansehen, zeigen sie die Fülle des Belebten, Warmen, Männlichen. Wie
diejenigen, welche den Weizen worfeln, so thun unsere Gymnasten mit den Leibern;
Spreu und Hülsen blasen sie weg, die reine Frucht scheiden sie aus und bringen
sie zu Haufen und bewahren sie sorglich."
Die Gymnastik der Griechen bestand
hauptsächlich in dem "Pentathlon" (dem "Fünfwettkampf"),
das folgende Uebungen: den Lauf, Scheibenwurf, Sprung, das Speerwerfen und den
Ringkampf begriff. Diese fünf Turnübungen umfaßten bei den großen
Nationalfesten der Hellenen in Olympia, Nemea etc., in Folge alter Gesetze, die
ganze Gymnastik, und mit diesen wenigen Uebungen bildete sich die ganze
Schönheit der Hellenen heraus, so daß Aristoteles sagen konnte: diejenigen,
welche jenen fünf Uebungen ausschließlich obgelegen und in ihnen Festpreise
errungen haben, seyen die schönsten Menschen gewesen. Aber es waren nicht nur
die Jünglinge und Männer, welche Gymnastik trieben, auch die Jungfrauen waren
in Sparta durch Sitte und Gesetz zu körperlichen Uebungen verpflichtet.
Niemand kann es einfallen, der Einführung der
altgriechischen Gymnastik in jetziger Zeit, bei unsern gegebenen Verhältnissen,
das Wort zu reden. Denn abgesehen von den sonstigen, der Sache entgegen
stehenden Schwierigkeiten, haben wir an der guten deutschen Turnkunst ein
hinlängliches Ersatzmittel, das ganz dazu geeignet ist, mit unserer Bildung und
Sitte und unsern Anforderungen an das Leben in Einklang gesetzt zu werden.
Nachdem die Gymnastik bei den alten Deutschen
in ziemlich roher Gestaltung aufgetreten, im Mittelalter die Turniere eine
eigenthümliche poetische Richtung angenommen hatten, verkümmerte in Folge
einer einseitigen, dem praktischen Leben abgewandten und vielverbreiteten
Richtung der Geister und des heiligen Nimbus, den die Ascetik, die Entsagung,
Kasteiung, Abtödtung des Fleisches um sich verbreitete, den Sinn für leibliche
Uebungen, da man die Fülle körperlicher Gesundheit vielfach für ein
Hinderniß der Sittlichkeit ansah. - Nachdem sie durch die Reformation,
besonders durch Luther entschieden befürwortet, wiederum in Aufnahme gekommen
war, fand sie späterhin in Rousseau einen eifrigen Verfechter und erhielt gegen
Ende des achtzehnten Jahrhunderts in dem sogenannten Philanthropin in Dessau
unter Basedow eine praktische Durchführung für pädagogische Zwecke. An die
Namen Gutsmuths und Pestalozzi knüpfen sich dankbare Erinnerungen wegen ihrer
eifrigen Bemühungen um die Gymnastik; aber ein Mann ist es hauptsächlich, der
ein allgemeines nationales Interesse für sie zu erwecken wußte, Friedrich
Ludwig Jahn, der leibliche Repräsentant, hie und da freilich auch die
Carrikatur urdeutscher Sitte und Natur nach Gestalt, Sprache, Kleidung. Seine
Absicht war, die Knaben und Jünglinge zu kräftigen deutschen Männern zu
bilden, damit sie deutsche Sitte und Eigenthümlichkeit liebgewännen und bereit
wären, das Vaterland zu vertheidigen und die Nationalität aufrecht zu
erhalten. Unter ihm blühte (in Berlin) das Turnwesen in neuer Frische;
aber das kecke Treiben der Turnjugend erregte Verdacht bei der Regierung, Jahn
wurde bei Gelegenheit des Sandschen Attentats gefänglich eingezogen und die
Turnplätze geschlossen, und erst in den vierziger Jahren sehen wir fast
überall wieder Turnanstalten entstehen.
Jahn benutzte die Turnkunst mehr zu nationalen
Zwecken, während ihm die wirkliche Durcharbeitung des Körpers im Ganzen ferner
lag. Ein rationeller Turnunterricht verlangt eine zweckmäßige Anwendung der
Mittel mit Rücksicht auf die Eigenthümlichkeiten des menschlichen Leibes; ein
System der Gymnastik muß nothwendig auf den Menschenorganismus gegründet seyn,
welcher den Maßstab zur Anordnung wohldurchdachter gymnastischer Einwirkungen
und Uebungen abgeben muß. Denn nicht in der Virtuosität der Kraft und
Gewandtheit ist die Hauptsache zu suchen, nicht in jenen brodlosen Künsten,
wodurch einzelne hervorragende Turner bei den Zuschauern die Wirkung des
Erstaunens hervor brachten. Die Turnkunst mußte dadurch in den unliebsamen Ruf
einer Gauklerkunst kommmen, während doch in der That nur das Schöne und
Nützliche angestrebt werden sollte.
Eine wesentliche Umänderung des ganzen
Turnwesens, wie es nach den hauptsächlichsten Grundzügen noch jetzt besteht,
wurde in neuerer Zeit durch Adolf Spieß, jetzigen Vorstand des
Turnwesens in Darmstadt, erzielt. Er fand, daß man fälschlicherweise
hauptsächlich auf solche Uebungen Bedacht genommen hatte, welche an
künstlichen Vorrichtungen in ungewöhnlichen Lagen des Leibes auszuführen
sind, auf die sogenannten Gerätheübungen, während doch die vornehmlich
zu berücksichtigen waren, welche sich mit der turnerischen Entwicklung des
Leibes an sichwährend der gewöhnlichen Zustände desselben beschäftigen,
nämlich die sogenannten Freiübungen, die oft gerade die schönsten und
bedeutendsten sind, wodurch einer allseitig bildenden Turnkunst erst die rechten
Mittel an die Hand gegeben werden. Er verband mit diesen Freiübungen die
sogenannten Ordnungsübungen, die ihre große pädagogische Bedeutung
darin haben, daß der Einzelne zum Bewußtseyn der Gesammtheit, der gemeinsamen
Uebung und Handlung gebracht wird, und in dem Bestreben, die Gemeinkraft zu
unterstützen und dem Ganzen sich einzuordnen, wesentlich in der
Ausbildung seiner Leibes= und Geisteskräfte gefördert wird. Durch diese
einfachen Uebungen erzielte Spieß eine harmonische Bildung des Leibes. Dadurch
daß sie den Einzelnen geistig und leiblich erfassen, machen sie den Turnenden
fähig, die Totalität der menschlichen Kräfte an sich selbst darzustellen.
Eben durch dieß ist das Turnen geeignet, in einen Bund mit andern Künsten zu
treten, wie die altgriechische Gymnastik im engsten Zusammenhang mit der Musik,
Orchestik und Dichtkunst stand. Namentlich ist es die Musik (besonders im Sinn
der Alten, die darunter "schöne Künste und Wissenschaft" überhaupt
verstanden), welche eine natürliche Verbündete der Turnkunst abgibt. "Die
beste Gymnastik," sagt Plato, "ist die Schwester der reinen und
einfachen Musik. Indem jene dem Leibe Gesundheit, diese der Seele
Selbstbeherrschung gibt, so machen sie beide eine vollständige Bildung aus. Die
bloß Gymnastik (körperliche) treiben, werden zu rauh, die bloß Musik
(geistige Uebungen, darunter auch Musik) treiben, zu weich."
Die Musik, den Gesang nun führte Spieß in
ausgedehnter Weise bei seinen Turnübungen ein und verschaffte dadurch denselben
ein ganz besonderes Interesse. Ein nicht genug hervorzuhebendes Verdienst von
Spieß ist es, daß er auch der weiblichen Gymnastik wieder zu ihrem Rechte, das
sie seit der Zeit der spartanischen Jungfrauen ganz verloren zu haben schien,
verholfen und dadurch der jetzigen und der künftigen Generation eine
wesentliche Wohlthat erwiesen hat. Es ist Thatsache, daß in den meisten
deutschen Ländern, namentlich auch in Württemberg, dem Turnen von seiten der
Regierung bedeutender Vorschub geleistet wurde, daß die Schüler in den
Städten meistens verbunden sind, regelmäßig bei den Turnübungen zu
erscheinen, und diese einen Bestandtheil des Classenunterrichts ausmachen.
Dagegen ist das weibliche Geschlecht in dieser Beziehung noch auffallend
vernachlässigt, während doch die weibliche Gymnastik bei der zarten
Organisation und bei dem ewigen Sitzen der Mädchen, so wie bei den gesteigerten
geistigen Anforderungen, die man an sie macht, ein noch viel entschiedener
hervortretendes Bedürfniß ist. In den Schulen wird nur zu oft der erste Keim
zu so manchen Verunstaltungen des weiblichen Körpers gelegt. Die unzureichende
körperliche Uebung und Erholung muß natürlich auch eine lähmende
Rückwirkung auf Geist und Gemüth äußern, und der Tanzunterricht wird als
vermeintlich schicklicheres Surrogat an die Stelle der Gymnastik gesetzt,
während ein guter Turnunterricht die gesündeste Propädeutik, die beste
Vorschule für das Tanzen abgibt.
In England hat man dem Turnen unter dem Namen
"Kallisthenie" unter dem weiblichen Geschlecht der höheren und
gebildeten Stände Eingang zu verschaffen gewußt. Hoffen wir, daß die
rationelle Gymnastik auch bei unserer weiblichen Jugend sich mehr und mehr Bahn
breche, unter denjenigen, welchen die Möglichkeit dazu gegeben ist, allgemein
Brauch und Sitte, und dadurch eine gleichmäßigere geistige und leibliche
Erziehung angestrebt werde. Preisen und fördern wir die Schönheit und
Gesundheit der Seele, aber sorgen wir dafür, daß es nicht einseitig geschehe.
Die Anstrengungen, welche die Gymnastik von dem Mädchen wie von dem Knaben
fordert, von der Jungfrau wie von dem Jüngling, sie belohnen sich reichlich
durch die wohlthuende Erholung von der geistigen Anstregung, welche Schule und
Unterricht der Jugend zumuthen muß, durch die heilsame Aufhebung der durch jede
einseitige Thätigkeit bewirkten Störungen und schwächenden Verzerrungen. Sie
öffnen im jugendlichen Menschen überhaupt den reinen, unerschöpflichen Born
der natürlichen frischen gesunden Kraft und Grazie, sie beseitigen alle
Hemmungen im Organismus, sie geben der Hand und dem Fuß jene Sicherheit und
Elasticität, dem Geiste jenes Selbstvertrauen, jene Beweglichkeit, jene
poetische und moralische Stimmung und Haltung, der gegenüber man auf den ersten
Anblick in den freudigen Ruf ausbricht: das ist ein gesunder, ein schöner
Mensch, das ist ein Charakter!
Unser Landsmann Hölderlin sagt:
Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,
Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern',
Und verstehe die Freiheit
Aufzubrechen, wohin er will.