Ravel
MAURICE RAVEL:
"L’ENFANT ET LES SORTILÈGES"
("Das Kind und die Zaubereien")
Mit dieser Ballett-Aufführung von Ravels "Lyrischen
Fantasie in zwei Teilen" – die als Oper komponiert wurde – kommt "L’enfant
et les sortilèges" wieder zu seinem Ursprung zurück. Denn zu Beginn stand
– immerhin fast zehn Jahre vor der Fertigstellung und Uraufführung der Oper
am 21. März 1925 in Monte Carlo – die Idee, eines Kinderballetts. Schon 1916
schrieb Sidonie-Gabrielle Colette, die sowohl als Schriftstellerin als auch als
Pantomimin, Schauspielerin und Tänzerin überaus großen Erfolg hatte,
innerhalb von nur acht Tagen das erste Libretto zu einem vom Direktor des
Pariser Theaters in Auftrag gegebenen Märchenballett. Stets hat Colette es
verstanden, die schwierigen Seiten des Lebens, wie sie es erfahren hatte, in ihr
schriftstellerisches Werk tief einfließen zu lassen: Im Mittelpunkt stehen oft
ihre nicht immer einfache Kindheit in Burgund sowie ihre Karriere als Pantomimin
in den Pariser Musikhallen. Zudem ist es die Zauber-Welt der Tiere, vor allem
der Katzen, die es ihr angetan hat. Beides findet seinen Niederschlag in der
Geschichte von dem verstockt-wilden Kind, das durch die zauberhafte
Vermenschlichung der Umgebung, der Tiere, Bilder und Gegenstände, zur Besinnung
geführt wird.
Unter allen Komponisten, die für die Vertonung des Librettos
ins Gespräch gebracht wurden, kam für Colette nur Maurice Ravel in Betracht.
Doch nicht nur mit dem Arbeitstitel der Colette: "Divertissement pour ma
fille" ("Unterhaltung für meine Tochter") hatte Ravel so seine
Schwierigkeiten. Er lehnte das Angebot zunächst ab mit dem Hinweis: "Ich
habe keine Tochter!". Dies war jedoch nur ein Vorwand, Ravel liebte es
überhaupt nicht, zeitlich oder sonst wie unter Druck gesetzt zu werden. Die
erste Übersendung des Librettos erreichte ihn wegen der Wirren des ersten
Weltkriegs nicht, er war als Lastwagenfahrer in der Nähe von Verdun eingesetzt.
Der Kriegsdienst dauerte für Ravel glücklicherweise nicht lange, denn 1917
wurde er wegen Krankheit frei gestellt und konnte sich wieder seiner Musik
widmen. 1918 erreicht der Text endlich Ravel, und dass er es entgegen nimmt, ist
das einzige positive Zeichen für Colette. Denn Ravel lässt nichts von sich
hören. Erst auf mehrere Briefe antwortet er endlich zögernd: "In Wahrheit
arbeite ich schon daran: Ich mache mir Notizen, ohne jedoch Noten zu schreiben
– auch denke ich an Änderungen. Aber haben Sie keine Angst, es geht nicht um
Kürzungen, ganz im Gegenteil. Könnte nicht die Erzählung des Eichhörnchens
erweitert werden? Stellen Sie sich vor, was ein Eichhörnchen alles über den
Wald sagen könnte und wie sich dies musikalisch anhören würde. Oder: Was
Halten Sie davon, eine Tasse und die Teekanne, aus altem schwarzem Wedgwood,
einen Ragtime singen zu lassen?"
Es entspannt sich ein reger Austausch zwischen den beiden
Künstlern, der vor allem auf Anregung Ravels zu vielen Ausgestaltungen,
Einfügungen von Tänzen und ähnlichem mehr führt. Beide sind sich in ihren
Vorlieben für die Natur, Blumen und Tiere, vor allem Katzen, für die
Zauberwelt der Märchen und die Wichtigkeit der Kindheit einig. Beide verbindet
zudem eine tiefe Zuneigung zur Mutter. Alle diese Gemeinsamkeiten sind
natürlich sehr förderlich für die gemeinsame Arbeit; leider ist "L’enfant
et les sortilèges" die einzige Zusammenarbeit dieser beiden
wesensverwandten Menschen. Im Zuge der Arbeiten wird für Ravel aus der
Ballett-Idee eine Oper – und auch der endgültige Titel "L’enfant et
les sortiléges" wird von ihm im Winter 1920/21 festgelegt. Dann
unterbricht Ravel seine Arbeit wegen anderen Kompositionen sowie ausgedehnten
Konzertreisen wieder. Doch ganz entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten lässt
sich Ravel vom Direktor des Opernhauses Monte Carlo im Sommer 1923 nach der
äußerst erfolgreichen Aufführung seiner Oper "L’Heure espagnole"
zu einem Vertrag überreden, der die Fertigstellung für die Opernsaison 1925
festlegt. Und trotz Widerwillens gegen solche Zwänge – von denen er sich oft
genug befreit – hält Ravel den Abgabe-Termin ein: Am 21. März 1925 erleben Colette
und Ravel in Monte Carlo die vom Publikum und der Presse begeistert gefeierte
Premiere. Eine beinahe zehnjährige Entstehungsgeschichte, während der das als
Ballet begonnene und als Oper zu Ende gebrachte Projekt mehrfach auf des Messers
Schneide stand, hat so ein glückliches Ende genommen.
Die Handlung der Oper – und auf dieser DVD des Balletts –
geht tief auf die Probleme von Kindern in der Trotzphase ein. Das Kind, ein
kleiner Junge, ist störrisch und widersetzt sich der Mutter. Es will keine
Hausaufgaben machen und hat nur dumme Streiche im Kopf. Die Mutter schließt es
bei ungesüßtem Tee und trocken Brot in seinem Zimmer ein. In einem trotzigen
Wutanfall stellt der Bub verbotene, böse Dinge an: Er zerstört das alte
Teegeschirr; er verletzt das im Käfig eingesperrte Eichhörnchen mit seiner
Schreibfeder; er ärgert die Katzen, indem er sie grob am Schwanz zieht; er
löscht das Kaminfeuer und es qualm scheußlich; der Standuhl reißt er das
Pendel ab; die schöne Tapete mit Schäfermotiven reißt er wütend von der
Wand; und zu guter Letzt zerfetzt er seine Bücher und Schulhefte. Nach diesem
Ausbruch von Zerstörungswut will er sich ermattet in den Sessel fallen lassen.
Doch was ist das? Das ganze Zimmer verwandelt sich in eine Zauberlandschaft, in
der die zerstörten, misshandelten Gegenstände zum Leben erwachen. Der
Lehnstuhl tanzt mit dem Polstersessel einen ruhigen Tanz, während sich die
Wanduhr wild schlagend beklagt, die Zeit nicht mehr zu wissen. Die schwarze
Wedgwoodkanne und die chinesische Teetasse, führen auf Englisch und einem
Phantasie-Chinesisch eine erregte Unterhaltung indem sie einen Foxtrott tanzen.
Wütend zuckt das Feuer aus dem Kamin und verfolgt bedrohlich den Jungen. Und
Schäferinnen und Schäfer beklagen weinend die zerfetzte Idylle und zerstörte
Liebe. Ja selbst die erste große Liebe des Jungen, die Prinzessin aus dem
zerrissenen Märchenbuch und ihr Prinz erscheinen, um hernach für immer zu
verschwinden. Oh Schreck, was für eine fürchterliche Erscheinung kommt aus den
Rechenbüchern: Der Kobold Mathematik bedrängt gefolgt von wirbelnden Zahlen
den Jungen mit schrägen Rechenaufgaben und unmöglichen Ergebnissen. Und sogar
der Kater wendet sich von dem Jungen ab und vergnügt sich in einem Liebesduett
lieber mit der Katze.
Alles hat sich gegen den kleinen Jungen verschworen. Selbst als
er dem Liebeslied der Katzen folgend in den vom Vollmond beschienenen Garten
folgt, wendet sich die von ihm gequälte, verletzte und zerstörte Natur gegen
ihn. Der Baum beklagt die ihm geschlagenen Wunden. Die Libelle und die
Fledermäuse beweinen ihre durch den Jungen getöteten Gefährtinnen, die Mutter
der Kleinen, die auch jämmerlich zu Grunde gehen mussten. Das Eichhörnchen
warnt nach dem Tanz der Laubfrösche einen besonders vorwitzigen Frosch vor der
Bösartigkeit und Hinterlist des Jungen. Dieser steht der massiven Feindlichkeit
der von ihm gequälten und misshandelten Natur machtlos gegenüber und beginnt
zu erkennen, was er getan hat; ja dass die Tiere in ihrer Angst vor ihm ihn
hassen müssen. Der Hass schlägt in Gewalt um, jedes der Tiere will dem Jungen
einen Schlag versetzen, und in der unkontrollierten Wut wird ein kleines
Eichhörnchen verletzt. Ohne nachzudenken hilft das Kind dem Eichhörnchen,
indem es ihm die verletzte Pfote verbindet. Der Junge zeigt zum ersten Mal
echtes Mitgefühl, und die Tiere merken, dass tief in ihm ein guter Kern steckt.
Sie wollen nun dem ebenfalls verletzten Kind helfen und nehmen seinen
verzweifelten Ruf, das Zauberwort "Mama" auf: Das Kind findet zurück
zum wachen Leben und zur Liebe seiner Mutter.
Aber der Inhalt stellt naturgemäß nur die eine Seite dar. Die
Musik, die Instrumentierung, die Harmonien und die Rhythmik, und vor allem die
Melodik, die sich ganz nah an die Textvorlage anschmiegt, macht die
unverwechselbare Eigenart dieser Oper aus. Sie nimmt in klassischer Ausprägung
eine Eigenheit des Musicals vorweg: Einzelne, abgeschlossen Szenen, die
musikalisch ihren eigenen Reiz haben, stehen wie in einer Musikrevue
nebeneinander. Zusammengehalten wird dies alles durch die Handlung und die
Personenführung sowie deren Gesang. Ravel sagt selbst über diese Oper:
"Das Bestreben nach Melodik, das hier vorherrscht, entspricht dem
dichterischen Entwurf. Es hat mir gefallen, ihn im Geist der amerikanischen
Operette zu bearbeiten. Das Libretto von Madame Colette stützt diese Freiheit
im Märchenreich. Die Gesangslinie sollte dominieren. Das Orchester braucht zwar
nicht auf Virtuosität zu verzichten, ist aber dennoch von zweitrangiger
Bedeutung."
Und in unserem Ballett dominieren die vom Gesang geführten
Tänzerinnen und Tänzer.
ZUR INTERPRETATION DURCH DAS NEDERLANDS DANS THEATER
Schon 1959 wurde das Nederlands Dans Theater gegründet. Es
setzte sich von Anfang an vom traditionellen klassischen Ballett ab und
probierte neue Formen und Techniken des Tanzes und Ausdrucks sowie neue Inhalte
mit großer Experimentierfreudigkeit aus. Jirí Kylián übernahm 1975 erst
28jährig die künstlerische Leitung des Balletts. 1967 hatte er ein Stipendium
an der Royal Ballett School und kam ein Jahr später zu John Cranko ans
Stuttgarter Ballett, wo er in der Folgezeit neben der Karriere als Solotänzer
auch erste, hoch beachtete Choreografien vorlegte.
"L’enfant et les sortilèges" bringt in der
Choreografie und Ausstattung Jirí Kyliáns zur wegweisende Pariser
Operneinspielung unter Lorin Maazel ein phantasievolles von witzigen Einfällen
im tänzerischen Bereich wie in der Ausstattung sattes Ballettmärchen. Ein
modernes Handlungsballett in nur vordergründig realistischer Ausstattung, in
welchem Tee-Tasse und Wedgwood-Kanne, Sessel und Stuhl, Stehuhr und Pendel,
Flammen und Rauch, eben noch als leblose Dinge wahrgenommen, plötzlich tanzend
zum Leben erweckt werden. Neben Katzen, Eichhörnchen, Libelle, Fledermäusen
und Laubfröschen, sowie Schäferinnen mit Schäfern und Prinzessin mit Prinz
bis hin zum Kobold Mathematik entfalten die belebten Dinge ein beängstigendes
Treiben, das nicht nur den trotzig-bösen Jungen zur Räson bringt, sondern auch
die Zuschauer in seinen Bann zieht.