Kunstessay

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"Kunst gibt nicht das Sichtbare
wider, sondern macht sichtbar."

Karin Bukowski, Georg Gradistanac 
und der Kunstkreis Schömberg

Das vorangestellte Wort Paul Klees mag man als Leitmotiv des Kunstkreises Schömberg ansehen, der es sich seit 1978 zur Aufgabe gemacht hat, in monatlichem Rhythmus die Welt von Künstlern und Kunsthandwerkern interpretiert vorzustellen. Das lichtdurchflutete Kurhaus-Foyer nebst Treppenaufgang bietet sich für Ausstellungen förmlich an, da in der reinen Höhenluft des Nordschwarzwaldes die Farbigkeit von Ausstellungsexponaten unter Verzicht auf Kunstlicht besonders zur Wirkung gelangt.

Beinahe einhundertfünfzig Einzel- und Gruppen-Ausstellungen von arrivierten Künstlern, Hobby-Künstlern, künstlerisch wirkenden Senioren und unterschiedlichsten Berufsgruppen sowie von Kunsthandwerkern aus dem engeren Umfeld Schömbergs, d.h. dem Landkreis Calw und dem Enzkreis, aus der Bundesrepublik und aus so unterschiedlichen Ländern wie beispielsweise Ungarn, der Tschechoslowakei, Italien, Österreich und der Schweiz oder gar aus Sri Lanka dokumentieren die Breite des Blickwinkels, unter welchem der Kunstkreis Schömberg den Begriff ‘Kunst’ verstanden wissen will. Hier haben neben Gemälden, Bildern und Grafiken sowie Plastiken in den unterschiedlichsten Stilrichtungen, Techniken und Bearbeitungsweisen auch zeitgenössische Emailkunst, Batik, Porzellan, Holzschnitzarbeiten, Puppen, Teppiche, Schmuck, weihnachtliche Krippen etc. ihren Platz.

Das Anliegen des Kunstkreises, Kunsthandwerk in seinen beiden Bestandteilen ‘Kunst’ und ‘Handwerk’ durch seine Aktivitäten zu versöhnen, dokumentiert sich auch in den parallel zu den Kunstausstellungen einmal jährlich laufenden Ausstellungen der Gesellenstücke des Tischlerhandwerks im Kurhausfoyer, sowie im aus Anlass des 15jährigen Kunstkreis-Jubiläums 1993 durchgeführten Kunsthandwerkermarkt, der seither jährlich stattfindet, sowie in den Schömberger Kleinkunsttagen.

Dass Vernissagen häufig durch musikalisch-künstlerische Darbietungen umrahmt werden, versteht sich beinahe als Selbstverständlichkeit; dass dabei so bekannte Künstler wie beispielsweise die Chanson-Sängerin und Liedermacherin Joana - bei der Ausstellung ‘Landschaftsrealitäten’ von Karin Bukowski - auftreten, dürfte eine Besonderheit des Kunstkreises Schömberg ausmachen. Wie sich dieser neben seinen Ausstellungsaktivitäten im übrigen auch im Konzertwesen tummelt, mit einigen Konzerten des Südwestdeutschen Kammerorchesters Pforzheim sowie Klavierabenden und weiteren Kammerkonzerten unterschiedlicher Besetzungen.

Stellvertretend für die ungezählten Ausstellenden des Kunstkreises Schömberg mögen im folgenden die ‘Bildbatikerin’ Karin Bukowski aus Schömberg (Ausstellung 27.08.-16.09.1993) und der ‘Maler’ Georg Gradistanac aus Wildberg (Ausstellung 15.04.-03.05.1994) stehen, die beide im besonderen das vorangestellte Motto Paul Klees in ihren extrem unterschiedlichen Arbeiten demonstrieren.

‘Landschaftsrealitäten’ von Karin Bukowski

oder

‘Innenwelten und Außenwelt’

 

"Die bewegte Hand
Es führt zu gar nichts, nur auf schöne Art zu fühlen. Das bleibt innen, hat keinen Weg aus sich heraus, wird nicht mitgeteilt. Aber ebenso ist das Innere vorausgesetzt, wo immer künstlerisch gestaltet wird. Ein Ich muss hinter der aufgetragenen Farbe sein, eine Hand, die aufträgt. Ein Gefühl geht durch die bewegte Hand hindurch, fügt sich in das Gemalte ein. So wie andererseits bildende Begabung nur dadurch sich als solche ausweist, dass sie von vornherein auf Gestalten hingeordnet ist, ja überhaupt nichts in sich findet, was nicht auf seinen ausgeformten Platz drängt. Das Handwerk kommt derart nicht zu dem bildend Inneren als anderes, gar Fremdes hinzu, sondern ist das Innere, das sich gürtet und fertig macht. Wenn auf dem Weg zwischen dem Ich, das etwas kann, und dem Handwerk, das gekonnt wird, etwas verloren geht, so war es nicht viel wert. Inneres spricht, sobald es etwas zu sagen hat, immer Äußerung; nun sprechen sie beide voneinander. Ein Bild wird darum auch gehört, nicht bloß gesehen, es erzählt das, was man darauf sieht. Und zwar zunächst auf freundliche Weise, Buntes an sich wirkt heiter."

Soweit Ernst Bloch im Anfangsabschnitt unter der Kapitelüberschrift ‘Dargestellte Wunschlandschaft in Malerei, Oper, Dichtung’ in seinem undogmatisch-marxistischen Früh- und Hauptwerk ‘Das Prinzip Hoffnung’. Diese Gesamtschau der menschlichen Möglichkeiten in einer industrialisierten Gesellschaft, die durch Entfremdung des Einzelnen von den geschaffenen Produkten, der ihn umgebenden Umwelt und Natur, ja von sich selbst gekennzeichnet ist, weist in einer grandios-expressiven Sprache hin auf einen Ausweg. Auf einen Ausweg aus dem Dilemma von innerer Wärme und äußerer Kälte, von verzweifelnder Vereinsamung und gesichtsloser Vergesellschaftung, von lebensspendender Natur und gefolterter Umwelt.

Man mag sich fragen, was dies mit den Bildern und der Person der ‘Bildbatikerin’ Karin Bukowskis zu tun hat. Die oben zitierten Zeilen weisen tief in den Schaffensprozess einer bildenden Künstlerin, die eine Technik verwendet, wie Karin Bukowski. Ist doch Batik im Bewusstsein der meisten eine leicht erlernbare Technik des Kunsthandwerks, die sich hervorragend eignet, Tischläufer, T-Shirts und ähnliche Gebrauchsgegenstände des Alltäglichen individuell zu verschönern; und nie und nimmer wird man ohne ein gewisses Naserümpfen den Gedanken wagen, diese Technik mit der hohen Kunst der Malerei in Verbindung zu bringen. Und wenn wir uns umschauen in Ausstellungen von Karin Bukowskis Bildern? - so werden wir doch kaum bei diesen ‘Bildern’ an Batik denken. Eher taucht der Gedanke an technisch wie auch immer verfremdete Aquarelle auf. Und doch ist dies Batik: Bild-Batik, eine Technik, die kaum ein anderer so beherrscht - und von der kaum ein anderer so beherrscht wird - wie Karin Bukowski.

Die Künstlerin leidet an den Unzulänglichkeiten des menschlichen Umgangs mit der Natur, an der stets sichtbaren Destruktivität des Menschen, der in seiner Zerstörungswut, die sich als Fortschritt kaschiert, die Bedingungen von Zukunftsmöglichkeit mit zerstört. Und sie protestiert. Ihr Protest ist ein stiller, auf den ersten Blick harmonisch einherschreitender: ‘Buntes an sich wirkt heiter’. Und doch ruft sie ihren Protest laut hinaus, denn Bloch ist in Gänze zuzustimmen, wenn er äußert, dass ein Bild erzähle, was man darauf sieht. So ruft sie in immer neuen Variationen ihren Protest hinaus.

Selbst im Protest fühlt Karin Bukowski ‘auf schöne Art’. Doch bleibt es eben nicht beim Fühlen, das Gefühlte macht sich auf den Weg in die Welt, will sich mitteilen, und teilt sich in einer Technik, einem Handwerk mit, das für seinen Zweck sperrig ist, Widerstände dem schnellen Erfolg entgegensetzt. Da drängen Bilder heraus und werden gezügelt durch die selbstauferlegte Pflicht. Das Handwerk begegnet dem fühlenden, bildend Inneren und verschmilzt mit diesem im Schaffensprozess zu einer unlösbaren Einheit. Schicht um Schicht, Punkt um Punkt, Farbpigment um Farbpigment wird das Bild aufgebaut, immer schon das Endprodukt teleologisch wissend. Zahllose Arbeitsgänge, in welchen dem Stoff wieder und wieder mit Wachs andere, zum Teil punktartige Regionen abgerungen werden, um Farbe zu empfangen. Und erst die Zusammenschau der Regionen, der Farbaufträge, der Abgrenzungen, erst die Mischungen übereinanderliegender Regionen, Farbaufträge und Abgrenzungen lassen quasi pointillistisch das Bild, die Botschaft entstehen. All diese Schattierungen und Farbnuancierungen des Grün beispielsweise - der bestimmenden Farbe im Werk Karin Bukowskis, die selbst bei vollständiger Abwesenheit in einem Bild dieses noch mitbestimmt - das zwischen Braun, Rot und Blau in den unterschiedlichsten Helligkeits- und Wärmestufen alle Möglichkeiten der Farbskala ausschöpft, kommen erst durch ein zielgerichtetes, schichtendes Arbeiten zustande. Die Zusammenschau muss im Innern der Künstlerin fertig sein, bevor das Handwerk in sein Recht gesetzt wird; jede Farbe, jede Form muss auf die Stufen ihrer Entstehung hin analysiert sein; das Endprodukt bestimmt vom ersten Handgriff an den Prozess. Und es darf auf dem Blochschen ‘Weg zwischen dem Ich, das etwas kann, und dem Handwerk, das gekonnt wird,’ nicht viel verlorengehen, das nicht viel wert war, denn sonst misslingt bei dieser Technik, die kaum spätere Korrekturen zulässt, das Werk. Beinahe bedächtig entstehen so die Bilder Karin Bukowskis in einem langwierigen inneren Dialog zwischen Ich und Handwerk, zwischen geschauter und geformter Realität.

Dem äußeren Aufbau der Bilder, ihrer Tektonik, die sowohl durch die künstlerische Aussage wie durch die verwendete Technik mitbestimmt ist, entspricht ein innerer, vielschichtiger Aufbau. Das Auge nimmt naturgemäß im ersten Betrachten nur die vielschichtige äußere Tektonik wahr. Erst das Einlassen auf ein einzelnes Bild, ein Nachspüren der farblichen Übergänge und Brüche, ein Sich-Einlassen auf den Dialog zwischen künstlerischem Ich und Handwerk, lässt auch den Betrachter die inneren Strukturen, Überlagerungen und Abgrenzungen erahnen. Nein, erkennen kann man sie nicht mehr, dazu ist die Technik der Künstlerin viel zu ausgefeilt, hat Karin Bukowski ästhetisch fühlendes Innen und handwerklich gestaltendes Außen beinahe vollständig und, wie schon gesagt, ohne erkennbare Transmissionsverluste zur Deckung gebracht. Nur im Wissen um den Entstehungsprozess kann eine Annäherung an die Erkenntnis des Schaffensprozesses gewagt werden, der im alten Sinn des Wortes ‘Arbeit’ ist: Mühsal, Plage. Denn einsam ist die Künstlerin, wenn sie ihre Bilder schafft. Bild-Batik ist eine reine Atelier-Technik, im Freien, vor der Natur können nur Skizzen entstehen, nur innere Bilder aufgebaut werden. Mit Wachskocher, Spannrahmen und ähnlichen aufwendigen Hilfsmitteln läßt sich kaum in die Landschaft hinausgehen, und der Auftrag und das Entfernen von Wachs sind an Temperaturen und äußere Bedingungen geknüpft, die das Atelier als unausweichlichen Ort des Malens zwingend vorschreiben. In der Einsamkeit des Ateliers, in der Auseinandersetzung mit dem mal heißen, mal kalten, mal spröden, mal teigigen und dann wieder flüssigen Material, mit Seide, Wasser, Farben und Pinseln u.s.f. findet ein innerer Dialog statt, der beinahe wie auf einem Tonträger aufgezeichnet ist. Das Bild redet, ruft in ästhetisch gebrochener Weise keine Botschaft in die Welt, sondern gibt einen markanten Ausschnitt des endlosen Dialogs der Künstlerin über die Welt, wie sie ist und wie sie sein sollte, wider.

So sehr die Bilder ihren Protest in die Welt rufen, sie schreien nie, Polemik und scharfzüngiger Angriff sind nicht ihre Sache. Sie wollen zum Gespräch einladen, indem sie die Nöte und Schmerzen der Entfremdung erzählen. Wenn Bloch als das Medium und Brennglas des menschenmöglichen Hoffens Visionen, Phantasien und Wunschbilder der Nacht- und Tagträume herausstellt und präzisiert, dass gerade im Kunstwerk die Konkretisierung der Tagträume erfüllt wird - weshalb jede kreativ-künstlerische Menschenäußerung größtmögliche Rückschlüsse auf das vorhandene Hoffnungspotential erlaubt - so weist dies auf die Tiefenstruktur des Schöpfungsvorgangs. Die Vision des Tagtraums ist die schöpferische Inspiration. Lassen wir hierzu nochmals Bloch zu Wort kommen: "Die Zündungsgegend der Inspiration liegt in der Zusammenkunft einer spezifisch genialen, das heißt schöpferischen Anlage mit der Anlage einer Zeit, den spezifischen Inhalt zu liefern, der für die Aussage, Formung, Durchführung spruchreif geworden ist." Die schöpferische Anlage der Künstlerin Karin Bukowski trifft auf die destruktive Anlage unserer Zeit, in welcher die Bedrohung des Menschen durch den Menschen nicht mehr in der furchtbaren, atomaren Weltkriegskatastrophe gedacht wird, sondern in der schleichenden und scheinbar unabwendbaren Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlage, der großen Mutter Erde. Und in der schnelllebigen Zeit, die auch in der Geschwindigkeit der Umweltzerstörung Superleistungen vollbringt, entdeckt Karin Bukowski eine Technik der Langsamkeit. Behutsam und gelassen nimmt sie die Inspiration ihrer Tagträume auf. Sie gewährt den Bildern, die noch ungeordnet auf sie einströmen, eine Inkubationszeit, in der sie sich entwickeln, reifen können, um dann die reifsten Früchte zu pflücken und in einem weiteren Prozess der diskursiven Auseinandersetzung mit ihnen und dem sie zu bildenden Material eine künstlerische Reifung anschließen zu lassen. Dieser Reifungsprozess ist nochmals durch die schon angedeutete zeitaufwendige Schritt-um-Schritt-Technik des Bild-Batik der Gelassenheit und Langsamkeit verpflichtet. Hier wird nicht schnell etwas expliziert, nein hier wird langsam Argument auf Argument gebaut und ein ästhetischer Diskurs angeboten. Uns bleibt nur übrig, die Früchte zu pflücken, vom Baum der künstlerischen Erkenntnis zu kosten, um zu erkennen, wie nackt wir sind. Wie ungeschützt unser Tun, wie gedankenlos unser Umgang mit der Natur ist, werden wir gewahr, wenn wir uns einlassen auf das, was uns die Bilder zu erzählen haben; wenn wir uns in das Selbst-Gespräch, das die Künstlerin führt, einmischen; wenn wir es nicht beim Gespräch lassen, sondern die Gesprächsinhalte in unser Leben bestimmende Handlungsanweisungen umformulieren.

Goethes berühmtes Gedicht ‘Ginko biloba’ aus dem ‘West-östlichen Divan’ erinnernd hat mein tagträumendes Alter Ego Siegfried Carl - das Vorangehende wie in einem Brennglas bündelnd - folgende Verse für Karin Bukowski geschrieben:

Ginko biloba

Du hast sie alle, wirst uns alle überleben,
du bist uns Rätsel, Wegweis und Symbol;
du stehst als Monolith vor uns, und hyperbol
zeigst du, daß Zwergenwuchs dem Mensch gegeben.

Du bist ein Zwei in Eins und doch entzweit,
du hast dich ganz bei dir in allem Streben,
du stehst allein und bist doch Zwei - und eben
zeigst du in deiner Art Gelassenheit.

Auf eine Welt, die scheinbar innen hohl,
die untergeht in Lärm, Unruhe, Streit.
schaust du und stehst - zumeist verkannt - daneben.

'Augen-Blicke' des Georg Gradistanac

oder

Über die allmähliche Veränderung der Welt beim Malen

 

Nach seinen frühen aquarellierten Landschaften, seinen die derzeitige Phase vorbereitenden Aquarellen und Zeichnungen der Jahre bis 1992 - auf die die folgenden Ausführungen durchaus auch zutreffen - arbeitet der Wildberger Künstler Georg Gradistanac seit einigen Jahren großformatige aus den früheren Arbeiten herzuleitende und die früheren Techniken stets weiterhin mitnutzende Bilder in Acryl; teils von großer Farbigkeit, teils beinahe monochrom schwarz- (bzw. grau-) weiß. Vor allem diese Bilder der letzten Phase seit ca. 1992 sind Grundlage der folgenden Ausführungen.

Eine kurze Vorbemerkung mag in die Gedankenwelt des Künstlers einführen. Denn gerade in den letzen Jahren hat Georg Gradistanac das Verspielte und Figurative, das Landschaftlich-Realistische - wobei die Landschaften bezeichnenderweise meist das Sehnsuchtsland, ‘wo die Zitronen blühen’ abbilden - zurückgedrängt. Er versucht mehr und mehr Gedankliches zeichnerisch umzusetzen. Nicht mehr blühende Innenwelten sollen Abbildung erfahren, sondern seine Sicht menschlichen Zusammenlebens, menschlicher triebgesteuerter Defekte und der Deformationen des Menschseins in der postindustriellen Massengesellschaft drängt auf Verbildlichung.

Georg Gradistanac, der aus dem ehemaligen Jugoslawien stammende ‘Weltbürger - trotz aller negativer Entwicklung in der Welt’ - so hat er sich selbst einmal genannt - leidet, trotz jahrzehntelangem Leben in der Bundesrepublik, als ‘Ausländer/Fremdling’ in Deutschland am ‘Heimatverlust’. ‘Mit dem Wort Heimat klappt es bei mir einfach nicht!’. Von den früheren Landschaften kommt er zum Menschen, denn Heimat ist für ihn kein Ort, sondern - wenn überhaupt - ist es die Summe der Menschen, die etwas bedeuten für sein Leben, die prägend für ihn waren und sind, eine Rolle spielen. Diese Menschen sind quasi Knoten im Netz des Lebens; ohne sie würden alle Lebenskräfte durch zu große Maschen verrinnen, vergeudet werden. Und so ist für ihn die ewige Frage nach dem Menschen - ‘Was ist, wie ist der Mensch für mich?’ - in den Mittelpunkt seiner Gedanken getreten, und damit auch in den Mittelpunkt seines künstlerischen Schaffens.

Erwarten Sie auf den wenigen zur Verfügung stehenden Seiten von mir keine kunsthistorische Einordnung des Malers Georg Gradistanac und seiner Bilder, sondern nur einige philosophische, im engeren Sinn ästhetische und anthropologische Reflexionen.

"Die Bearbeitung der Welt durch den Menschen, der Prozess der Zivilisation, ist nicht nur ein äußerer, sondern auch ein innerer Vorgang, der unser gesamtes, genießendes und leidendes, Bewusstsein ergriffen hat. Durch seine kreativen und imitativen, seine kommunikativen und separierenden Möglichkeiten vollzieht es den theoretischen und faktischen Aufbau der Zivilisation als einer künstlichen Realität, die wir bewohnen."

Dass ein Zitat Max Benses meine Ausführungen über die Bildwelten Georg Gradistanacs einleitet, soll Programm sein. Bense, Mitbegründer und Vorreiter der sogenannten numerischen oder auch informationstheoretischen Ästhetik, zugleich auch Wortführer einer die Binnenstruktur von Zeichen ergründenden und erklärenden Semiotik, kann uns entscheidende theoretische Hilfestellung beim Weg der Entschlüsselung der Zeichenwelt der Bilder Georg Gradistanacs geben. Denn es ist eine eigentümliche Welt, die Georg Gradistanac in eigenwilliger Maltechnik in den letzten Jahren erschaffen hat; eine künstliche Realität, die den erotischen Genußmenschen neben dem am Geschlechterkampf Leidenden, den das Leben lustvoll zelebrierenden Individualisten in einer krankmachenden, konformen Massengesellschaft zeigt. Denn im Prozess der Zivilisation haben sich nur wenige die von Bense apostrophierten Möglichkeiten des Bewusstseins im kreativen und imitativen, sowie kommunikativen und separierenden Sinn erhalten. Diesen Wenigen gilt das Bemühen Georg Gradistanacs, den Wenigen, die sich einlassen auf seine entäußerte innere Realität, auf seine kraftvolle Auseinandersetzung mit den Widersprüchlichkeiten der vom Menschen gemachten äußeren künstlichen Realität - einer Maschinenwelt, mit entindividualisierten lemminghaften Wesen, die zu Iconen, bildhaften Zeichen ihrer menschlichen Herkunft geworden sind. Und so gerinnt die Welt im Bewusstsein des Malers zum bloßen Muster und die Menschen zu Schemata, die in ihrer Vermassung nur noch indexikalisch als großes Contra zum aussterbenden Einzelmenschen in Bezug gesetzt Sinn machen.

Selbst in den wenigen Bildern, in welchen der Mensch an die Peripherie des Inhalts zu rücken und nur noch in der Person des Maler gegenwärtig scheint, ist er letzthin im Zentrum des Geschehens. Denn dieses ist nur in Bezug auf den Menschen verstehbar. Im Verstehensprozess können die schon oben erwähnten indexikalischen Wegzeichen nur aufgedröselt, ihre Richtung bestimmt werden, wenn sie als in das Zentrum menschlicher Existenz zielende begriffen werden.

Und als auffälliges, wenn auch häufig verschlüsseltes, erst auf den zweiten Blick in Auge fallendes, zuweilen schockierendes Ausrufungszeichen immer wieder, als pars pro totum für die Zwiegeschlechtlichkeit der Welt: Phallus und weibliche Scham, teils in Konfrontation patriarchalische Machtdominanz aufzeigend und in Frage stellend, teils in Verschlingung eine Utopie des Ausgleiches zwischen den Geschlechtern andenkend, quasi ein androgynes, nur noch durch die körperlichen Geschlechtsmerkmale zu differenzierendes Menschenbild zur Diskussion stellend. Wobei in der Darstellung von Individuell-Körperlichem auch in der extremsten Verfremdung und Deformation das Wissen um die Klassizität des menschlichen Körpers mitschwingt. Dies gilt für Extremitäten und Geschlecht ebenso wir für die ins Mephistophelische gesteigerten Köpfe, deren unmittelbare Wirkung und Ansprache aus den Augen, den Blicken der Augen resultiert. Wie künstlich und ins Monströse, ja zum Teil Surreale entstellt auch immer Körper, Geschlechtsteile, Münder, Nasen und Ohren als haptisch-taktile, akustische oder auf den Geruch kaprizierte Empfangsorgane dargestellt werden, als optischer Einlass, als Fenster von Bewusstsein und Seele ist das Auge - auch wenn seine Stellung im Gesicht verquer wirken mag - stets ein Blickendes, Kontakt Suchendes, in welchem Traurigkeit und Zärtlichkeit, Wissen und in den meisten Fällen auch Schalkhaftigkeit mitschwingen.

Es ist in der körperlichen Deformation und Verzerrung, im Ausbreiten der destruktiven Elemente des Geschlechtstriebes und in der entpersönlichten Darstellung von Welt viel Hässliches, ja zuweilen Abstoßendes. Aber da sind die Kompositionselemente, die Bildaufteilung und Dynamik; da ist weiche braune, blaue und graue, nie eintönig wirkende Flächigkeit und dabei die Verbindung von Zeichnerischem, ja Grafischem mit kräftig farbigem, gar leuchtendem Malstil, oder schwarz-grau-weiß abstufend monochrom, beinahe wie ein symbolisch verfremdetes, auf den Punkt und Strich gebrachtes Schwarz-Weiß-Foto; und da sind die Themen - und: die Augen, die manches Mal an die säkulare Form des kunstgeschichtlich omnipotenten Auge Gottes erinnern!

An vielen der Bilder von Georg Gradistanac wird die Sentenz Adornos augenfällig: "Unzulänglich ist die Identifikation der Kunst mit dem Schönen, und nicht nur als allzu formal. In dem, wozu Kunst geworden ist, gibt die Kategorie des Schönen lediglich ein Moment ab und dazu eines, das bis ins Innerste sich gewandelt: durch die Absorption des Hässlichen hat sich der Begriff der Schönheit an sich verändert, ohne dass doch Ästhetik seiner entraten kann. In der Absorption des Hässlichen ist Schönheit kräftig genug, durch ihren Widerspruch sich zu erweitern."

Es sind die augenblicklichen Momentaufnahmen von Menschen in der Welt, die sich im Akt des Malens in eine künstlerische, künstliche Realität verändern und dann zur Veränderung der in der Vermassung versinkenden gesellschaftlichen, künstlichen Realität hin auf mehr gelebte und akzeptierte Individualität und Humanität auffordern. Und es sind diese Kontakt aufnehmenden Augen-Blicke des sich im Bild verbergenden und durch diese Blicke entbergenden künstlerischen Ichs, die einem ästhetischen Imperativ gleich zum Nachdenken, zum Einlassen auf die aus dem Chaos der inneren Welten zwanghaft entstandenen Bild-Welt zwingen. Georg Gradistanac ist ein Augen-Mensch, ein Sehender, der die Welt beinahe kindlich stets neu sieht und sich immer wieder neu erschafft - denn was ist die Welt außerhalb des Bewusstseins? - und sein ganzes Bestreben scheint zu sein, dem Betrachter seiner Bilder die Augen neu zu öffnen; nicht nur die Augen, auch Herz und Verstand. Er fordert auf, im Reich der Phantasie die Summe der möglichen Welten zu ergründen, und sich nicht damit zufrieden zu geben, dass die existierende wohl schon das Optimum an denkbarer Welt darstellt. Der Prozess der Zivilisation ist nicht umkehrbar und nicht aufzuhalten, aber er ist bewusst zu machen als die Bearbeitung der Welt durch den Menschen und für den Menschen, als eine Utopie, die das Prinzip Hoffnung nie aus den Augen verliert.

Das Glück des Malers Gradistanac nach der Vollendung eines Bildes, einer neuen Welt aus der chaogenen Struktur seines Bewusstseins im von Zufällen abhängigen schöpferischen Akt, der einer permanenten inneren Notwendigkeit entspricht, ist dem Glück des Sisyphos vergleichbar, dem, am Gipfel angekommen, der Fels wieder hinabrollt. Und wieder wird die Last des Steins in neuem Anlauf, als zwanghaft-notwendige Handlung dem Gipfel zugerollt, um nach dem letzten Kraftakt dort, am höchsten Punkt, für einen Pulsschlag der Geschichte vollendet zu verharren - und wieder herabzurollen, neuen Anlauf, neue Kraft zu fordern. Ich denke, Georg Gradistanac ist in diesem Sinn ein überaus glücklicher Mensch.

Den Schluß meiner Ausführungen mögen einige Verse des großen Sehenden der deutschen Literatur bilden, die zentralen Zeilen der Achten Duineser Elegie Rainer Maria Rilkes:

"Und wir: Zuschauer, immer, überall,
dem allen zugewandt und nie hinaus!
Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt.
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst."

 

Die beiden Essays über Karin Bukowski und Georg Gradistanac sind für den Druck leicht überarbeitete Reden auf Vernissagen zu Ausstellungen der beiden Künstler. Die Überarbeitung bezieht sich in beiden Fällen auf ein Zurücknehmen der persönlichen Anrede an ein Publikum und der direkten Hinweise auf ausgestellte Bilder. 

 

Verwendete Literatur [in Auswahl]:

Adorno, Theodor W.: Äsatetische Theorie, hg.v. Gretel Adorno/Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1970.

Assunto Rosario: Die Theorie des Schönen im Mittelalter. Köln 1963.

Badinter, Elisabeth: Ich bin Du. Die Beziehung zwischen Mann und Frau oder Die androgyne Revolution. München1987.

Benjamin, Walther: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/M. 1963.

Bense, Max: Aesthetica. Einführung in die neue Ästhetik. Baden-Baden 1965, 2/1982.

ders.: Einführung in die informationstheoretische Ästhetik. Reinbek bei Hamburg 1969.

ders.: Zeichen und Design. Baden-Baden 1971.

ders./Elisabeth Walther (Hgg.): Wörterbuch der Semiotik Köln 1973.

Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt/M. 1954.

Cézanne, Paul: Über die Kunst, hg. v. W.Hess. Hamburg 1957.

Cohen, Hermann: Kants Begründung der Ästhetik. Berlin 1889

Emerson, Ralph Waldo: Selected Essay. Harmondsworth 1982.

Kultermann, Udo: Kleine Geschichte der Kunsttheorie. Darmstadt 1987.

Landmann, Michael: Philosophische Anthropologie. Berlin 1969.

Monod, Jacques: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie. 3/1977.

Peters, H.C.: Die Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens. Berlin 1964.

ders.: Grundlagen der modernen Kunst. Stuttgart 1966.

Ritter, Joachim: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In: ders.: Subjektivität. Frankfurt/M. 1974, S.141-164.

 

© Dr. Rüdiger Krüger, Rheda-Wiedenbrück 2006
Kontakt: mailto:siegfriedcarl@hotmail.com
letzte Änderung: 14.07.05

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