'Hohes Lied'

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KÖRPERSCHÖNHEIT

IM 'HOHEN LIED'

 

3. KÖRPERSCHÖNHEIT IM 'HOHEN LIED'

Das Muster der gerade dargestellten personarum descriptio a corpore finden wir jedoch auch in von der dargelegten abendländischen Rhetorik-Tradition völlig unbeeinflussten Texten anderer Kulturkreise. Auf die abendländische Kultur hat hieraus in starkem Maß das Hohe Lied gewirkt. Die Tradierung des HL durch die Jahrhunderte ist in vielen Kommentaren zum Alten Testament gut aufgearbeitet, und auch die Probleme um die unterschiedlichen Auslegungstypen (allegorisch, typologisch, mythologisch-kultisch, dramatisch und "buchstäblich") und den Vertretern dieser Deutungsmöglichkeiten sind weitestgehend geklärt und namhaft gemacht worden.

Die zumeist als älteste, ursprüngliche Verstehensweise des HL bezeichnete, die auch während der Dominanz v.a. der allegorischen Deutung im späten Judentum und - unter anderen Vorzeichen - im christlichen Mittelalter nie ganz verdrängt wurde, ist die "buchstäbliche", auf den natürlichen Literarsinn profan-erotischer Erklärung zielende. Sie hat sich seit der Übersetzung durch Opitz und die eingehende Beschäftigung Herders langsam aber stetig in der protestantischen, in neuerer Zeit auch katholischen Theologie durchgesetzt. Selbstverständlich ist im Mittelalter die allegorische, auf das Verhältnis Christus : Maria/Kirche/Einzelseele abzielende Deutung allmächtig. Die Art und Weise, wie das HL jedoch auf die lat. Liebesdichtung gewirkt hat und wie es in manchen HL-Bearbeitungen auftaucht - wir werden darauf weiter unten noch zurückkommen müssen - zeigt, dass ein profan-erotischer Gebrauch keineswegs unüblich war.

Das HL besteht - und dies darf heute als opinio communis bezeichnet werden - aus einer Reihe von Einzelliedern, die erst spät in ihre uns heute vorliegende Folge gebracht wurden. Im einzelnen ist es auch für den Alttestamentler heute nicht mehr möglich, den Gesamtbestand der Texte in eine nach metrisch-rhythmischen oder inhaltlichen Grundsätzen geordnete Reihenfolge zu bringen oder vollständige Einzellieder herauszuschälen. Einzelne Abschnitte lassen sich jedoch sehr wohl voneinander scheiden, nur ihr Zusammenhang, bzw. ihre Ordnung ist fraglich. "Die Bruchstückhaftigkeit vieler Abschnitte des HL.s sowie die ziemlich zahlreichen Dubletten lassen vermuten, dass wir die Lieder nicht in ihrer ursprünglichen Gestalt vor uns haben. Es handelt sich vielmehr z.T. um sog. zersungene Lieder, z.T. sogar um bewusst umgearbeitete Gesänge, die in typisch semitischer Weise ohne klare Disposition zusammengestellt wurden. Die ursprüngliche Bedeutung der Lieder dürfte also zur Zeit der Aufnahme in den Kanon bereits vergessen gewesen sein, obgleich eine zeitliche Beziehung zum Frühling (und damit zum Passah-Fest) wohl bestanden haben könnte." Da sich einerseits die "ursprüngliche Gestalt" der Lieder nicht herstellen lässt, die fragmentarischen Reste der Lieder sich jedoch nach Strophenbau und stilkritischen Elementen wie refrainartigen Wiederholungen sowie Gattungseinordnungen u.ä. in die unterschiedlichsten Reihungen bringen lassen, sei hier ein Versuch gewagt. Im HL finden sich an vielen Stellen Lobpreisungen der Schönheit der beiden Liebenden, wobei die Schönheit der Frau im Vordergrund steht. Diese können im emphatischen Benennen des pauschalen Schön-Seins, in Vergleichen, im Ansprechen von teilweise metaphernreich ausgeschmückten Körperteilen oder in Kombinationen der genannten Möglichkeiten erfolgen; ja selbst die schöne Umgebung kann zur Erhöhung des Schönheitslobs mit herangezogen werden. Gleich zu Beginn in HL 1,8-2,3 sind alle diese Faktoren in einer Wechselrede der Liebenden im Übermaß vorgestellt. Zu Partien vollständiger Beschreibungslieder verdichten sich diese Möglichkeiten des Schönheitspreises an vier Stellen des HL: HL 4,1-7; HL 5,10-16; HL 6,4-7 und HL 7,2-8; wobei die jeweils umgebenden Texte mehr oder weniger stark in den Beschreibungskontext gehören. HL 6,4-7 ist hierbei teilweise knapp erweiterte, teilweise verkürzte Wiederaufnahme der Kopfbeschreibung von HL 4,1-3, deren Funktion wir im Rahmen der folgenden Gesamtinterpretation unseres HL-'Frühlingszyklus' erörtern müssen. Die drei anderen Beschreibungspassagen schwingen refrainartig aus, sie verweisen mit den Parallelen HL 4,6 : HL 2,17 und HL 6,3/7,11 : HL 2,16 auf die Frühlingspassage HL 2,10-17. Es ergibt sich durch Reihung der angesprochenen Versfolgen ein in sich geschlossener Zyklus von 4 Liedern:

I. HL 2,10-17 Frühlingseingang

II. HL 4,1 -7 Frauenbeschreibung

III. HL 5,10-6,3 Männerbeschreibung

IV. HL 6,4 -7 Frauenkopf- und
+ HL 7,1 -11 Frauenbeschreibung

Ich bezeichne dieses Konstrukt nach seinem Einleitungslied als HL-'Frühlingszyklus'. Es soll einerseits die Folie abgeben für die feinen Unterschiede zwischen der übergeordneten personarum descriptio a corpore und der spezifischen Beschreibung der körperlichen Frauenschönheit, die im folgenden Kapitel als Topos puella bella definiert wird. Es soll andererseits neben der erörterten Rhetorik-Tradition eine weitere Möglichkeit der Herkunft mal. volkssprachlicher Frauenbeschreibunden aufzeigen.

Doch nun zu unserem HL-'Frühlingszyklus'. Keel meint auf alle im HL kompilierten Lieder bezogen: "Es wird schwierig sein, die Konnotationen und Assoziationen, die sich bei den Dichtern und ersten Hörern und Lesern dieser Liebeslieder einstellen, mit Sicherheit zu benennen." Wir wollen daher den Zyklus hier nicht vor dem Horizont seiner palästinischen Entstehungszeit betrachten, hierzu haben die neuzeitlichen Kommentatoren und für die uns interessierenden Partien v.a. Keel viel Material an die Hand gegeben. Vor dem neuzeitlichen Verstehenshorizont, mit Blick auf die im Mittelalter v.a. in der Minnelyrik gängigen Topoi, Motive, Metaphern, Liedstrukturen etc. soll eine Annäherung versucht werden.

Hierbei ist leitmotivisch die Nähe zwischen den Liedern des HL und der Minnelyrik in den Vordergrund zu rücken. Die Lieder des HL "bringen ganz einfach den Wert und die Bedeutung der Geliebten und des Geliebten zum Ausdruck, die Sehnsucht der beiden nach Vereinigung, das Glück des Beisammenseins und den Schmerz der Trennung. Dabei ist die Betroffenheit total. Man möchte immer und ausschließlich (allein) beisammen sein, ahnt aber gleichzeitig, daß das nicht möglich ist." Zwar ist die Art, wie Mann und Frau beinahe gleichberechtigt, zumindest partnerschaftlich miteinander im HL verkehren, der Minnelyrik weitestgehend wesensfremd; aber wenn wir die rein männliche Betrachtungsweise des Liebesverhältnisses in der Minnelyrik als wesentlich erachten, so fällt ein männlicher Blickwinkel im HL-'Frühlingszyklus' und v.a. bei den Körperbeschreibungen auch auf. Erstens sind zwei der drei Beschreibungen Frauenbeschreibungen; zweitens wird uns die Frau variantenreicher, mit einer größeren Zahl und v.a. unter Einschluss eindeutig erotisch-sexuell konnotierter Körperteile vorgestellt; drittens sind die Frauenbeschreibungen wesentlich dynamischer als die des Mannes, die statisch, lebensfern, wie die Darstellung eines goldglänzenden Kunstwerks oder einer Götterstatue wirkt. Die männliche Sichtweise wird noch dadurch unterstrichen, dass die Frauenbeschreibungen als direkte Anreden, die Beschreibung des Mannes jedoch in der 3.Person erfolgen. Es ist auch nicht zu übersehen, dass bei der Frau die Schönheit wesentlich wichtiger ist als beim Mann; ein Faktum, das auch für die oben dargestellten mal. Rhetoriken wie auch für die mhd. Lyrik und Epik bestimmend ist.

Der HL-'Frühlingszyklus', der in seinem Aufbau insgesamt einem Wechsel mit dialogischen Einschüben gleicht, beginnt in Lied I mit einem den Frühling ankündigenden Natureingang, der alle Versatzstücke des locus amoenus aufweist, beides in der mhd. Lyrik gängige Gedichtanfänge bzw. Topoi. Der Geliebte bettet die Frühlingsschilderung in einen mehrfachen Anruf der Schönheit der Freundin und Aufruf, zu ihm zu kommen, den lieblichen Anblick schauen und die süße Stimme hören zu lassen. Es folgt diesem Frühlingsbild der stets von der Geliebten ausgesprochene, an das oben zitierte Dû bist mîn, ich bin dîn fast wörtlich erinnernde erste Refrain (HL 2,16) sowie der zweite Refrain (HL 2,17), der mit seiner Tagelied-Motivik und seinen Naturbildern, die erst beim zweiten Auftauchen (HL 4,6) - diesmal aus dem Mund des Mannes - profan entschlüsselt werden können, wiederum auf die mhd. Lyrik hinweist.

Lied II bringt nach einem Schönheitspostulat mit bekräftigender Wiederholung eine Frauenbeschreibung vom Kopf abwärts, wobei die zugehörigen Vergleichsobjekte, die größtenteils zum gängigen Repertoire der altägyptischen und palästinischen Liebeslyrik zählen, auf die geographische, historische und kulturelle Provenienz verweisen:

Augen - Tauben

Haar - Ziegenherde vom Gebirge Gilead wallend

Zähne - Herde schurbereiter Schafe

Lippen - Scharlachschnur

Mund - (lieblich)

Schläfe - Riß im Granatapfel

Hals - Davidsturm

Brüste - Zwillingskitze der Gazelle

Es ist dies eine schon in der personarum descriptio a corpore ganz ähnlich auftauchende Reihenfolge, welche dem Körperbau angepasst ist. Dieses anatomische Prinzip ist in allen Körperbeschreibungsteilen des HL vorherrschend. Wenn man die zyklische Ordnung der 4 Lieder mit ihrer Refrainbindung nicht berücksichtigt, ist klar, dass HL 4,6 den Gang der reinen Beschreibung stört, und man ist versucht, das Beschreibungslied mit HL 4,7 unter Ausscheidung von HL 4,6 schließen zu lassen. Es erscheint mir jedoch gleichermaßen die metaphorische Kraft des hier gebrauchten Bildes verkannt, wenn Gerleman HL 4,5b/6 wie HL 2,16b/17 als "festgeprägte Assoziationsgliederreihe [...], in der bestimmte Vorstellungen gemäß einer konventionellen dichterischen Gewohnheit stereotyp zusammengehören" bezeichnet. Ringgren kommt der Lösung des Problems wohl am nächsten, wenn er nach der Überlegung, den Vers an dieser Stelle als Dublette von HL 2,17 auszuscheiden, fortfährt: "Ist der Vers jedoch hier ursprünglich am Platz, so sind 'Berg' und 'Hügel' wohl als poetische Bilder für Brüste und sonstige Reize der Braut aufzufassen; andernfalls wäre der Ausdruck rein buchstäblich, also im Sinn des Tempelbergs zu verstehen. Wie dem auch sei, hier handelt es sich um ein nächtliches Beisammensein." Sehen wir im Kontext unseres postulierten HL-'Frühlingszyklus' HL 4,6 als refrainartige, bestätigende Antwort des Mannes auf die Aufforderung der Frau in HL 2,17 mit einem irisierenden Schwanken zwischen buchstäblich-geographischer Treffpunkt-Vereinbarung und metaphorisch-körperlichem Berührungspunkt, so kann die emphatische Aufforderung als Höhepunkt der Frühlings-Natur-Beschreibung in Lied I der emphatischen Bestätigung als Höhepunkt der Schönheits-Beschreibung in Lied II parallelisiert gesehen werden.

Lied II wird dann, die Schönheit bekräftigend und eine Klammer zum einleitenden "Du bist schön, meine Freundin" bildend, mit HL 4,7 abgerundet: "Ganz und gar schön bist du, meine Freundin".

Als Antwort auf die beim Oberkörper abgebrochene Frauenbeschreibung erfolgt in Lied III die Männerbeschreibung - wiederum hauptsächlich im dem natürlichen Gang des Blicks folgenden anatomischen Prinzip:

Kopf - Gold

Locken - schwarze Dattelrispen

Augen - Tauben

Zähne - badend in Milch, fest

Wangen - Balsambeet mit Duftkräutern

Lippen - Lilien mit Myrrhe

Hände - Walzen aus Gold mit Tarsis-Steinen

Leib - Elfenbeinkunstwerk mit Saphiren

Schenkel - Marmorsäulen auf Goldsockel

Nach dieser Körperbeschreibung von Kopf bis Fuß folgt noch der Hinweis auf die ganze Gestalt und auf die Süßigkeit des Gaumens, womit sowohl der Kuss als auch das Sprechen assoziiert werden können.

Die Körperbeschreibung des Mannes ist weitaus realitätsferner, statischer als die der Frau. Man hat weniger den Eindruck einer Person aus Fleisch und Blut als den der Vergegenwärtigung eines kostbaren Götterstandbildes. Interessanterweise spielt die 'Schönheit' des Mannes nicht die Hauptrolle, schon das einleitende HL 5,10b "ausgezeichnet vor zehntausend" wie das beendende HL 5,16a "und er ist ganz und gar Wonne" weisen neben den Vergleichsspendern darauf hin, dass der Wert des Mannes vor seiner Schönheit rangiert. Hier sehen wir einen immer wieder beobachteten, fundamentalen Unterschied zwischen der Beschreibung eines Mannes und einer Frau, der durch die folgende Frauenbeschreibung noch unterstrichen wird: Obwohl die Abfolge der beschriebenen Körperteile sich ähneln, stehen bei der Frauenbeschreibung die Schönheit sowie bei der Auswahl das Spiel mit Nennen oder bewusstem Verschweigen eindeutig sexuell-erotisch konnotierter Körperteile bzw. -regionen im Vordergrund.

Lied III schwingt - bei Ausklammerung der entbehrlichen, nur im dramatischen Handlungskontext der HL-Liederkompilation notwendigen Frage HL 6,1 (der Funktion der mhd. merkaere vergleichbar) - in dem zweiten Refrain entnommenen Bildern und dem Schlusspunkt im ersten Refrain aus, der zugleich die Verbindung zu den Liedern I und IV herstellt. Was beim ersten Auftauchen dieses Refrains HL 2,16b "der unter Lilien weidet" noch unklar scheint, was in Lied II - HL 4,5b "weidend unter Lilien" - wohl in Verbindung mit HL 4,6 gesehen werden muss und in der Abfolge 'Brüste - Lilien? - Myrrhenberg/Weihrauchhügel' eine erotische Assoziationskette bringt, wird in Lied III in eine Reihung 'Balsambeete/Weiden in Gärten - Lilien pflücken' gebracht und in der Bekräftigung des ersten Refrains des gegenseitigen Gehörens der Geliebten und des Geliebten, "der unter Lilien weidet", in eine eindeutig erotische Sphäre gehoben. Wie in den hier nicht zitierten Versen HL 4,12-5,1 - die Geliebte wird als locus amoenus mit einer Anzahl kostbarer und schmackhafter Gewächse (darunter Myrrhen, Weihrauch und Balsam) beschrieben, und der Geschlechtsakt als Pflücken, Essen und Trinken der gebotenen Kostbarkeiten dargestellt - sind Garten, Balsambeete und das Pflücken der Lilien wohl auch hier eindeutig konnotiert.

Lied IV ist auch in der überlieferten HL-Kompilation direkt hinter Lied III eingefügt, wobei wir die Einschübe HL 6,8f und HL 6,10-12 sowie den Nachsatz HL 6,4b als dramatisierende Elemente ausscheiden. Das Lied, als Kombination der reinen Beschreibungsteile des 6. und 7.HL-Kap., bringt nach dem einleitenden HL 6,4a "Schön bist du, meine Freundin", das einen direkten Verweis auf Lied II/HL 4,1 darstellt, eine revocatio des Mannes. Die Augen der Geliebten als erotisch-sexueller Stimulus, die auch beim ersten Beschreiben HL 4,1 die Aufzählung beginnen, sind nun nicht mehr als Tauben versinnbildlicht, sondern erschrecken, verwirren den Mann. Sie tanzt in seiner Vorstellung wohl schon (HL 7,1) und das Blitzen ihrer Augen bringt wohl eher ihn zum Abwenden als sie, und er wiederholt memorierend die schon in Lied II, HL 4,1-3 erfolgte Kopfbeschreibung; nun verkürzt, auf Haar, Zähne und Schläfe beschränkt. Damit ist letztlich wieder das ganze Bild von Lied II vergegenwärtigt und zugleich der Verwirrung/Erregung entgegengewirkt.

HL 7,1 wirft Schwierigkeiten auf. Wer spricht in HL 7,1a, wer in b? Aus dem Handlungskontext der HL-Kompilation ergibt sich im Anschluss an HL 6,12 die Möglichkeit, dies sei ein "neckischer Zuruf an das Mädchen" durch den zuvor erwähnten Amminadib und sein Gefolge. Aber der Anschluss ist nicht eindeutig, da HL 6,12, in welchem die von allen Kommentatoren unterschiedlich gedeuteten "Wagen des Amminadib" erscheinen, als der "schwierigste Vers des HL" bezeichnet werden kann. Ich werde diesem Problem nicht weiter nachgehen; ich trenne HL 7,1 vom davor liegenden Text und nehme ihn als auktorialen Einschub, in welchem die Aufforderung der geilen Gaffer an das Mädchen durch den Sänger zurückgewiesen wird. "In der letzten Zeile spricht wieder eine andere Stimme, die in einem rügenden Ton die spaßhaften Worte [...] beantwortet. Es schickt sich nicht, das unschuldvolle Mädchen mit frivolen Blicken anzugaffen, als wäre sie eine freche Lagertänzerin. Wer ist der anonyme Sprecher? Vielleicht der gewöhnliche männliche Gegenspieler, d.h. der Jüngling. Natürlicher scheint aber, die Worte als einen Dichterspruch aufzufassen. Die Person des Erzählers tritt für einen Augenblick auf die Bühne und spricht in das Geschehen hinein." Gerleman geht über weite Strecken von einer dramatischen Handlung des HL aus, so auch hier. Nehmen wir die Stelle im Rahmen unseres konstruierten HL-'Frühlingszyklus', so ergibt sich ein fiktiver Zuruf der Zuhörer/-schauer, den der Autor/Sänger einerseits protestierend zurückweist, den er aber andererseits zum Anlass der neuerlichen Körperbeschreibung nimmt. Anders als bei der ersten Beschreibung, bei der die Abfolge in der natürlichen Blickhöhe des Kopfes beginnt und anatomisch nach unten fortschreitet, ist hier der umgekehrte Gang beschritten. Angeregt durch den imaginierten Tanz fällt der fiktive Blick zunächst auf die schönen Schritte/Füße in den Sandalen. Das eigentliche Beschreibungslied geht dann von HL 7,2-7,6, woran sich ein Werbelied mit Früchte-Metaphorik anschließt (HL 7,7-7,10), das sexuell-erotisch konnotiert den Gesamtwuchs sowie die Brüste, den Atem und den Gaumen besingt.

Schritte/Füße - schön in den Sandalen

Rundungen der Hüften - Geschmeide von Künstlerhänden

Schoß/Nabel - runde Schale mit Mischtrank

Leib/Bauch - Weizenhaufen von Lilien umhegt

Brüste - Zwillingskitze der Gazelle

Hals - Elfenbeinturm

Augen - Teiche von Hesbon

Nase - Libanonturm

Haupt - Karmel

Locken - Purpur

Nachdem er am Ende dieser ausführlichsten Beschreibung zum Ausdruck gebracht hat, daß er/ein König sich in den Flechten des Haares verfangen hat, d.h. letzlich in den Netzen ihrer Schönheit, kommt der Autor zu einer die Statik des Lobs des Mannes in HL 5,15b/16a realistischer und breiter ausdeutenden Werbung um die auch körperliche Zuwendung der Frau. Wo Lied III den Anblick des Mannes knapp mit Zedern umschreibt, die Süßigkeit seines Gaumens/Kusses und seine vollständige Wonne anspricht, setzt die Werbung mit der in Lied I/HL 2,10 "meine Schöne" : HL 2,14b "dein Anblick lieblich" beginnenden, in Lied II/HL 4,1 "Du bist schön [...] ja, du bist schön" : HL 4,7 "Ganz und gar bist du schön [...] und kein Makel ist an dir" gesteigerten Lied-Umklammerung in höchster Emphase ein. Die Umklammerung von Lied III wird, nach dem retardierend eingeschobenen Lied III, in HL 6,4 mit "Schön bist du" begonnen und nach der revocatio in HL 6,5a und dem langsamen, durch die vorgestellte Tanzsituation unterstützten Aufbau erotischer Spannung ekstatisch in der Werbung HL 7,7 "Wie schön bist du und wie lieblich [...]" geschlossen. Der Wuchs der "Wonnevollen" gleicht einer (Dattel-)Palme, die bestiegen, nach deren Rispen (Brüsten/Haaren?) gegriffen werden soll; Weintrauben, nicht mehr Gazellenzwillinge, sind nun die Brüste; der Atem schmeckt nach Äpfeln und der Gaumen/Kuss nach Wein - die zweimal erwähnten Trauben/Brüste im gekelterten Endprodukt zusammengefasst. Welch herrliche Liebeswerbung!

Die ekstatische Spannung bleibt erhalten, schwingt über das Ende des HL-'Frühlingszyklus' hinaus, wenn die Angebetete, Umworbene ihr "Ja" in der gewandelten Wiederaufnahme des ersten Refrains ausruft. Wo in Lied I/HL 2,16 noch die Abfolge er ist mein : ich bin sein, in Lied III/HL 6,3 ich bin sein : er ist mein mit dem unter Lilien weiden kombiniert auftaucht, wird der HL-'Frühlingszyklus' beendet mit der völligen Hingabebereitschaft und dem Wissen, dass das Angebot des Lilien-/Blumenbrechens alle Sinne des Geliebten gespannt hat: HL 7,11 ich bin sein und ihn verlangt nach mir.

Ich breche hier meine Interpretation des HL-'Frühlingszyklus' ab. Er ist ein Konstrukt, ein Versuch, durch inhaltlich-thematische Übereinstimmungen, wörtliche Parallelen und Überlegungen zur zyklischen Struktur, vier durch alle Kommentatoren als Liedeinheiten verstandene Passagen in der Reihenfolge ihrer Einarbeitung in die tradierte HL-Kompilation herauszuschälen. Die drei Passagen mit den Körperbeschreibungs-Liedern fügen sich v.a. durch die Refrainbindungen wie auch von der gesamten lyrischen Grundstimmung her an den Frühlingspreis an. Gegen die hier vorgestellte Reihung mag manches eingewendet werden; fest steht auf alle Fälle, dass die Schönheitspreisungen des weiblichen Körpers im HL in der gesamten im Abendland rezipierten Liebesdichtung eine herausragende Rolle einnehmen.

Dass das HL im MA den meistglossierten Bibeltext darstellt, der auch früh schon - in Willirams von Ebersberg Paraphrase - eine deutsche, volkssprachige Ausprägung erhielt, und dessen allegorische und typologische Kommentierung sowohl überwiegend in der Bildungssprache Latein als auch in allen volkssprachigen Idiomen während des ganzen MAs nie abbrach, ist unbestritten. Weniger aufgearbeitet ist der Einfluss des HL auf die profane Literatur des MAs, und nur unter der Voraussetzung eines solchen Einflusses sind ja die Beschreibungslieder des HL für die Erklärung der Muster von Körperbeschreibungen in mhd. Lyrik heranzuziehen. Drei Indizien weisen m.E. eindeutig in diese Richtung.

Da wäre zum ersten auf die Einflüsse des HL auf die geistliche Dichtung und deren Wirkung auf den Minnesang hinzuweisen. Sowohl die Mystik als auch, eng damit verbunden, die Mariendichtung saugen viele Einzelheiten ihrer Bildwelt aus einer allegorischen HL-Deutung; diese Bildwelt hatte auf diesem Umweg großen Einfluss auf die Minnelyrik.

Zum zweiten wären die an profanen Gebrauch anklingenden HL-Adaptionen in den 'Historienbibeln' und im berichtenden I.Hauptteil des 'Hohen Liedes' Bruns von Schönbeck zu nennen. Die 'Minnelieder' des HL in einigen Hss der 'Historienbibeln' sind im Gegensatz zum sonstigen Text in Versform, "um dem Laienpublikum deutlich zu machen, dass zwischen dem erotischen Literalsinn und der übrigen 'Wahrheit', die mit der Prosaform unterstrichen wird, unterschieden werden muss." Die von der "ursprünglich" auf Maria bezogenen allegorischen Deutung des HL abgeleiteten profan-erotische unterstreicht auch der Nachsatz in den 'Historienbibeln': "Salomon machet der minne buoch des ersten von unser frowen [Hs.X: von der muter gotz der jungkfrow Maria]. darnach do er die haidinen lieb gewan do leit ers uff sy. Man findt aber geschriben das er so groß ruw vor sinem tod gewan und darúber hett daz er sich mit gertten hieß schlachen." Der letzte Satz dieses Zitats darf als Warnung vor den Folgen der Sexualität und damit auch des profanen Gebrauchs des HL gewertet werden - mithin lag dieser wohl nahe.

Die 'Historienbibeln' bringen das HL versifiziert in ungleichlangen Strophen/Liedern und in anderer Reihung, aber doch eng am 'Original'; die Entstehungszeit und Aufnahmebedingungen der von Herder als "Minnelieder" bezeichneten HL-Strophen sind nicht mehr exakt nachvollziehbar. Im Gegensatz dazu ist Brun von Schönbecks Wirken relativ sicher ins dritte Viertel des 13.Jhs zu datieren. In seinem 'Hohen Lied', das eine breite und lange andauernde Resonanz fand, wird nach kurzer Einleitung (V.1-61) zunächst in zwei Hauptteilen (V.62-1055) die Erzählung von der Weisheit, Schönheit und dem Reichtum von König Salomon und seiner Liebe zu, Werbung um und Hochzeit mit des Pharaos Tochter dargeboten. Daraufhin wird im mehr als das Zehnfache an Versen (V.1056-12719) umfassenden 3.Hauptteil das HL ganz auf ältere Kommentare (v.a. Honorius Augustodunensis) zurückgreifend allegorisch ausgelegt, mit engster Nähe zu Äußerungen der Mystik der 2.Hälfte des 13.Jhs. Bei Brun von Schönbeck ist für den uns interessierenden Abschnitt bemerkenswert, wie er alle drei Beschreibungslieder des HL in eine der mal. Rhetorik genügende Abfolge der personarum descriptio a corpore einfließen lässt. Sowohl die Beschreibung des Mannes, wie auch die Tanzbeschreibung der Frau wird mit dem ersten Frauenbeschreibungslied gemeinsam in eine exakte Kopf-Fuß-Reihenfolge gebracht, um das im HL fehlende Ohr ergänzt und zur emphatischen Beschreibung der Tochter Pharaos in einem Liebesbrief Salomos an diese kombiniert (V.201-286), worauf die nicht an ausgesprochene Körperteile gebundene Schönheitsmetaphorik des HL in einem eigenständigen Katalog nachfolgt.

Zwar ist sowohl die HL-Umdichtung in den 'Historienbibeln' wie auch die angesprochene Passage in Bruns von Schönbeck 'Hohem Lied' nicht völlig profan, frei von aller allegorischen, mariologischen Deutung zu sehen, die Grenzen verschwimmen hier jedoch. Die Wurzeln des Minnesangs liegen selbstverständlich auch über 100 Jahre früher als die Fixierung der Entstehung der beiden besprochenen Umdichtungen - wobei die HL-'Minnelieder' durchaus in der ersten Hälfte des 13.Jhs entstanden sein und erst später in die 'Historienbibeln' Aufnahme gefunden haben können -; es sollte nur gezeigt werden, dass eine ins Profane weisende Nutzung der Beschreibungslieder des HL, freie Verfügbarkeit der Bildersprache, auch im volkssprachigen HL-Schrifttum durchaus vorhanden war.

Als drittes Indiz für den möglichen Einfluss der Körperbeschreibungen wie auch anderer Bilder, Situationen etc. des HL auf die mhd. Lyrik ist dessen Nutzung in der profanen lat. Lyrik des MAs, deren Einfluss auf die Minnelyrik unbestritten ist, zu nennen. Hier liegt noch vieles im Dunkeln. Obwohl auf die Bukolik der mlat. Lyrik verschiedenste Einflüsse eingewirkt haben mögen, ist eine der Wurzeln mit Sicherheit im HL zu sehen; neben Ovid dürfte das HL mit seinen expliziten, unverhüllten Hirten-, Ritter- und Königstravestien hier die stärkste Wirkung gehabt haben. Das gleiche gilt für die Farb- und Blumensymbolik, Ovid und HL vereint als Hauptbildspender. Für die Körperbeschreibungen und Naturschilderungen ist sicherlich wiederum eine der Wurzeln das HL. Ob im einzelnen die mal. Rhetorik, die Orientierung an Ovid, Horaz, Vergil und anderen antiken Autoren oder eben das HL bei der personarum descriptio a corpore in der mlat. Lyrik im Vordergrund stand, und inwieweit gar das HL auf die mal. Rhetorik eingewirkt hat, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen.

Neben den drei Indizien für den indirekten, d.h. vermittelten Einfluss des HL auf die mhd. Minnelyrik mag selbstverständlich auch die Lektüre des HL den einen oder anderen Lyriker direkt zur Übernahme von Mustern angeregt haben. Wie ja auch ganz generell der Körperschönheitspreis des HL auf die Schönheitsvorstellungen des MAs eine herausragende Rolle ausübte; "Le Cantique des Cantiques a éte un des livres favoris des mystiques médiévaux; or, par ses descriptions répétées de la beauté de l'Épouse et de l'Époux il pouvait une des sources les plus remarquables de l'Estétique médievale."

 

Anmerkungen

[Die folgenden Anmerkungen werden in Kürze dem Text zugeordnet!]

Vgl. z.B. die palästinischen, persischen und ägyptischen Beispiele in: Rudolph (1962) S.103f; Gerleman (1965) S.65-72; Ringgren (1981) S.271.

Eine problematische, rigoristische Herleitung aus dem babylonischen Ister-Tammuzkreis legte Schmökel (1956) vor; die nachgewiesenen Parallelen sind im einzelnen höchst interessant, der Versuch einer Neuordnung des Textes nach dramatischen Gesichtspunkten (S.45-47) wurde meines Wissens von der Forschung nicht übernommen.

Vgl. auch zur gesamten Metaphorik der Körperbeschreibungen im HL, deren Herkunft und Parallelen stets: Keel (1984), mit reichem Bildmaterial im Anhang.

Aus der Masse der theologischen HL-Kommentare wurden von mir intensiv herangezogen: Ringgren (1981) S.253-290; Gerleman (1965) S.41-235; Rudolph (1962) S.73-186; Müller (1992).

Zur christlich-abendländischen Tradition bis um 1200 grundlegend: Ohly (1958); de Bruyne (1946) Bd.3, S.30ff.

Vgl. Opitz (1638) S.7-34; Herder (1776) S.628: "Künstlichere Allegorien, Geheimniße und Drama's, oder gar Liebesränke und verflochtne Neid= und Bulergeschichte aus dem Harem finde darinn, wer wolle; ich finde sie nicht!"

Fast alle Kommentatoren stimmen in den Untergliederungen in Abschnitte oder kürzere Einzellieder aus metrisch-formalen und inhaltlichen Überlegungen überein; vgl schon: Herder (1776).

Ringgren (1981) S.255f.

Siehe zum folgenden den HL-'Frühlingszyklus' im Text-Anhang (34.) S.96ff.

Das Beschreibungslied mit zumeist erotischem Inhalt (arab. wasf) hat in der altarabischen Poesie eine lange und große Tradition. Es ist als Gedichtgattung im vorderasiatischen Raum von den Ägyptern geprägt worden. Vgl. Gerleman (1965) S.65 zu den "drei Gedichten in 4.1-7, 5.10-16 und 7.2-10, die sich formell und inhaltlich in eine gemeinsame Gruppe einordnen lassen und sich von der Umgebung sehr deutlich abheben."

Keel (1984) S.12.

Ebenda S.13.

Vgl. Rudolph (1962) S.105.

Interessant ist die Anmerkung Müllers (1992) S.42 zu den von ihm ausgeschiedenen Vv. HL 4,5b/6 die mit den nur noch entfernt erotisch konnotierten Bildern des 'Myrrhenbergs' und 'Weihrauchhügels' spielen: "Die Verse 5b und 6, nämlich [...] sind offenbar als Ersatz des Beschreibungsliedes eingetreten, der später das Schamgefühl verletzte und der allegorischen Deutung widerstand. V.5b, der nur auf den Mann passt, ist aus 2,16b, V.6a aus 2,17a herübergenommen. V.6b lenkt notdürftig zur Motivik des Beschreibungsliedes zurück. - Dagegen war in Hl. 7,1-7 eine entsprechende Eliminierung von V.2f. nicht möglich, ohne dass das Ganze zerstört würde."

Vgl. Gerleman (1965) S.68ff; Ringgren (1981) S.279.

Vgl. zum Gebrauch des Wortes 'schön' im Alten Testament in bezug auf das menschliche Aussehen: Gerleman (1965) S.74f.

Vgl. Sawicki (1932) S.76f zu Gottfried von Straßburg, was sich jedoch verallgemeinern lässt: "Schönheit als Hauptzug kommt vor allem den Frauen zu; bei Männern wird sie nur insofern berücksichtigt, als es nötig ist eine besondere Beliebtheit oder den Schmerz über einen Tod dadurch handgreiflich a priori zu motivieren." Sawicki verweist dabei in Anm.19 auf Matthäus von Vendôme, 'Ars.vers.' I.67.

Vgl. zum Natureingang: Wulffen (1963); zum locus amoenus: Thoss (1972), hier mit Herleitung der descriptio loci aus der mal.Rhetorik, den Artes poeticae.

Bis auf den Davidsturm - Keel (1984) S.38 schlägt als dynamische Übersetzung von HL 4,4a vor: "Unzugänglich wie der Davidsturm ist deine stolze Haltung." (man vergleiche die mhd. Minneburg-Vorstellung!) - sind alle Metaphern und Bilder der Beschreibungspassagen mit kulturgeschichtlichen Parallelen zu belegen. Vgl. v.a.: Keel (1984). Aber auch: Ringgren (1981) S.272, 278f u.282-285; Gerleman (1965) S.145-153, 171-178 u.195-200.

Vgl. Gerleman (1965) S.66f, der neben diesem vorherrschenden Prinzip bei kleineren Abweichungen hiervon in den beiden anderen langen Folgen HL 5,10ff und HL 7,2ff ein konkurrierendes Prinzip nach der Zusammengehörigkeit der Vergleichsobjekte feststellt.

So verfahren z.B.: Rudolph (1962) S.145: "Wir haben hier ohne Zweifel eine Zutat"; Ringgren (1981) S.272: "So wie er [der Vers HL 4,6] hier steht, zerbricht er den Zusammenhang der Beschreibung."

Gerleman (1965) S.150; Gerleman bemerkt zwar richtig, dass sich im HL das Sinnlich-Individuelle verflüchtige und durch den Gebrauch von Topoi eine realitätsferne Ebene des Aussprechens erreicht werde, dies kann aber wohl nicht zu dem falschen Schluss verwandt werden, die Topoi seien nicht mehr auflösbar, quasi in die Sprache der Realität übersetzbar.

Ringgren (1981) S.272.

Vgl. Gerleman (1965) S.68ff.

S.o. Anm.49 zur Eliminierung dieser Vv. durch Müller (1992).

Mythisch-kultische Deutungen des Hinabsteigens in Gärten als Abstieg des Gottes in das Totenreich überinterpretieren m.E. diese Stelle. Dass Garten und Brautgemach gleichzusetzen sind und eine Hochzeitssymbolik vorliegt, vgl. Ringgren (1981) S.279, überzeugt nicht vollständig. Rudolph (1962) S.161 zeigt, dass die Schwierigkeit v.a. durch HL 6,1 (die von mir ausgeschiedene Frage) auftaucht: "Stünde V.2 für sich, würde man den Garten ohne weiteres im Sinn von 4,12ff [als jungfräuliche Geliebte] verstehen." Rudolf spricht weiter von "reizende[m] Doppelsinn", von "bewusst zweideutig" in bezug auf die Lilien.

Vgl. Keel (1984) S.77: "Der Garten, zu dem der Geliebte nach 6,2 hinabgegangen ist, symbolisiert [...] die Geliebte." Und weiter: "Da der Lotus [die Lilie] die frische Lebenslust symbolisiert, die Lippen ;(5,13), Brüste ;(4,5), und Schoß ;(7,3) schenken, ist die Bedeutung des Pflückens (6,2), bzw. Abweidens des Lotus (6,3;2,16[;4,5]) ganz durchsichtig. Es ist nichts anderes als das Pflücken der Brüste-Trauben in Hld 8,9." Die Nähe zum mhd. bluomen brechen ist unübersehbar!

So Gerleman (1965) S.192.

Rudolph (1962) S.166; er bringt eine völlig andere Textherstellung und damit auch völlig abweichende Übersetzung.

Gerlemann (1965) S.193; er läßt das folgende Beschreibungslied erst mit HL 7,2 beginnen, (ebenda S.195).

Vgl. die entsprechende Beobachtung von: Ringgren (1981) S.284: "Die Beschreibung selbst beginnt mit den Füßen;, offenbar weil ihr Tanz die Aufmerksamkeit auf sie lenkt, und geht dann weiter körperaufwärts."

Auf die von allen Kommentatoren beschworene Nähe zu palästinischen Hochzeitsbräuchen - die Braut als Königin, der Bäutigam als König, Tanzeinlage etc. - die im HL ständig durchscheint, sei hier abrundend hingewiesen.

Vgl. oben Anm.2 die zu MF 3,1 'Dû bist mîn, ich bin dîn' gemachten Bemerkungen; Müller (1992).

Vgl. hierzu die Gliederung des Textes wie auch die auf rhythmisch-metrischen, motivlichen, dramatisch-strukturellen Überlegungen beruhenden Kommentare zum HL in: Rudolph (1962); Gerleman (1965); Ringgren (1981).

Auf Opitz (1638) und Herder (1776) als Stationen der Rezeptionsgeschichte wurde schon oben hingewiesen. Auch Goethe hat sich sowohl in seinen 'Noten und Abhandlungen zum Divan' mit dem "hohen Lied, als dem Zartesten und Unnachahmlichsten, was uns von Ausdruck leidenschaftlicher, anmuthiger Liebe zukommt" beschäftigt, vgl. Goethe (1888) S.8; dies ist die Frucht einer langen Beschäftigung Goethes mit dem HL, denn schon am 7.Oktober 1775 schreibt er an Johann Heinrich Merck: "Ich hab das Hohelied Salomos übersetzt, welches ist die herrlichste Sammlung liebes Lieder die Gott erschaffen hat." zit. nach: Goethe (1968) Bd.I, S.196,29f; die Übertragung in: Goethe (1896) S.299-310.

Timm (1982) bringt neben der Nachdichtung aus der 'Historienbibel' des 14.Jhs (dazu siehe im Text-Anhang (36.) S.104ff) die Übertragungen von Luther, Opitz, Goethe und aus neuerer Zeit von Manfred Hausmann als Stationen einer fast siebenhundertjährigen Rezeptionsgeschichte.

Vgl. bis um 1200, unter Einschluß der lat./früh-mhd. Paraphrase Willirams: Ohly (1958). Die sich durch das ganze MA hinziehende Rezeption Willirams bis hin zu vollständigen Eindeutschungen und lat. Rückübersetzungen in: Barthelmez (1967). Das 'St.Trudperter Hohe Lied', das stärkste Wirkung auf die Mystik und Mariendichtung ausübte, ist ediert in: Menhardt (1934) 2 Bde. Vgl. auch die von Ruh (1983) beschriebenen HL-Auslegungen des 14.u.15.Jhs.

Vgl hierzu v.a.: Kesting (1965) v.a. S.30-39 u. S.89-142; S.150: "Der Minnesang, vor allem Heinrich von Morungen, hat nicht nur dem traditionellen Bilderschatz der Marienverehrung, sondern auch der erst im 12.Jahrhundert voll aufblühenden mariologischen Hoheliedauslegung manches Motiv entnommen, um es sich in verwandelter Form zu eigen zu machen."

Siehe im Text-Anhang (36.) S.104ff. Vgl. Gerhardt (1983); Leschnitzer (1924).

Siehe im Text-Anhang (35.) S.101ff. Vgl. Wolff (1978).

Gerhardt (1983) Sp.71.

'Historienbibeln' S.442.

Vgl. Herder (1778) S.558-587, mit vollständigem Abdruck.

Interessant ist nebenbei, dass HL 2 und HL 4 in engster Verbindung sowie alle Beschreibungslieder der Frau eine besonders starke Auswertung in den HL-'Minneliedern' gefunden haben, die Beschreibung des Mannes in HL 5,10ff jedoch nur einmal äußerst knapp aufgegriffen wird.

Siehe im Text-Anhang (35.) S.101.

Vgl. z.B. Brinkmann (1980) S.349-353.

Vgl. Brinkmann (1925) S.78; auf den übermächtigen Einfluss Ovids, auf den Brinkmann zugleich hinweist, muss hier nicht weiter eingegangen werden.

Vgl. Brinkmann (1925) S.88: "In Preisgedichten war es schon seit Venantius Fortunatus üblich, auch der Schönheit der Dame zu gedenken. Nur versuchte man kaum, eine wirkliche Anschauung zu gewinnen. Man behalf sich mit traditionellen Bildern und Symbolen, die man vielfach dem Hohen Lied entnahm."

Vgl. hierzu 'Carmina Burana', v.a. CB 67 und 156.

de Bruyne (1946) Bd.3, S.30.

 

 

© Dr. Rüdiger Krüger, Rheda-Wiedenbrück 2006
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letzte Änderung: 02.05.00

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